: Welkende Blumensträuße
■ Zwischen Wong Kar Wai und Ken Loach: Carine Adlers psychologisches Drama Under the Skin im 3001
Als „wahrhaft weibliche Erfahrung“ hat die vormalige Dokumentarfilmerin Carine Adler ihr Spielfilmdebüt Under the Skin angelegt, fußend auf gerichtspsychiatrischen Erkenntnissen. Eine Erfahrung, geprägt von Verlust und Bindungslosigkeit – und einer in Aussicht gestellten Befriedung der emotionalen Kampfzone.
Auf den Krebstod der Mutter (Free Cinema-Ikone Rita Tushingham) reagiert die schwangere Rose (Claire Rushbrook) in vorgesehener Weise mit Bestürzung und Trauer, die jüngere Iris (toll: Samantha Morton) mit Trotz und der Flucht in Extreme.
Die „Trauerarbeit durch ein zwanghaftes Sexualverhalten ersetzend“ (NZZ), verlässt Iris ihren Freund Gary, zieht in ein Loch von Wohnung und lässt alle zwischenmenschlichen Beziehungen fahren. Sie beginnt, Perücke und verschiedene Kleidungsstücke ihrer Mutter zu tragen, und nicht erst vor dem Hintergrund ihrer kommenden Katharsis wirkt sie in dieser Staffage unwirklich und alienated. Eine promiskuitive „Education Sentimentale“ (Berliner Zeitung) führt sie hinter die „feindlichen Linien“ im Verhältnis der Geschlechter – und weg von Roses intaktem Ehe- und Berufsleben. Iris liest Männer auf der Straße auf, die unverbindlich bleiben oder sie erniedrigen, Zuneigung indes bleibt ihr versagt.
Schließlich kommt es zu einer entscheidenden Auseinandersetzung mit Rose, die mit der Schieflage in beider Verhältnis zur Mutter gründlich aufräumt, ein symbolischer Austausch von Geständnissen markiert die Klärung der Anspannung. Iris sieht schließlich ein: Sie und Rose sind nicht so unterschiedlich wie gedacht („außer, dass Rose immer aufräumt“) – Iris ist sogar bei der Geburt von Roses Kind dabei. Sie unternimmt endlich zaghafte Gehversuche in Richtung einer Gesangskarriere, was sie sich immer gewünscht hatte. Sie verbrennt die welken Blumensträuße von der Einäscherung der Mutter, Symbol uneingestandener Trauer und unverarbeiteten Verlustes, und arbeitet schließlich – in einem Blumenladen. Das Ende – und das ist das einzig Unglaubwürdige an der Geschichte – ist hoffnungsvoll.
Zwischen der Lakonik Wong Kar-Wais und der Tradition britischen (Sozial-)Realismus' Ken Loachs und Mike Leighs hat die Kritik Under the Skin nach seinem Erscheinen im Jahr 1997 aufgenommen. Das ist in mehrfacher Hinsicht begründet, nicht nur, weil mit Barry Ackroyd auch tatsächlich Loachs Kameramann beteiligt ist. Handkamera und Jump cut-Anleihen, Beschleunigung und Verlangsamung sind die Stilmittel, mit denen die (doch noch abgebogene) Abwärtsreise Iris' ins Bild gesetzt sind.
„In den Einstellungen steckt Hongkong-Avantgarde, in der Geschichte bitteres Kunstkino, im Dekor eine Ahnung von Realismus“ (Berliner Zeitung) – das Instrumentarium ist gut gewählt, die Geschichte bis auf vereinzelte Rückgriffe aufs Didaktische überzeugend. Dass es sich um ein Debüt handelt, ist Under the Skin im Guten anzumerken, in seiner Frische und Direktheit, nicht aber in Anfängerfehlern. Alexander Diehl
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