ex und pop (13): weltwundertauchen:
von DIETRICH ZUR NEDDEN
Das mutmaßlich derzeit bekannteste Wasserloch der Republik gehört zum „Weltwunder“ der Künstlergruppe Gelatin, einer vierköpfigen Boygroup aus Österreich. Wer ihr Kunstwerk auf der Expo sehen will, muss tauchen, denn es gibt weder Fotos noch Filmaufnahmen von der unterirdischen Kammer. Der Tunnel dorthin ist etwa sieben Meter lang, bis zu fünf Meter tief und hat im Längsschnitt die Form eines J. Man sieht von oben nicht, wohin man taucht. Vielleicht doch vorher ein paar Tage ins Höhentrainingslager nach Sils Maria? Wahlweise ein bisschen Epo nehmen auf der Expo, um den Hämatokritwert aufzumöbeln?
Wegen des in der Kammer herrschenden Überdrucks muss man darauf achten, den Druck in den „luftgefüllten Hohlräumen im Körper“ auszugleichen. Versäumt man es, riskiert man ein „Zusammenfallen der Lunge (Pneumothorax)“ oder „Gasembolien mit schlaganfallähnlicher Symptomatik“, Druckverletzungen mithin, die „sehr selten, aber unter Umständen lebensbedrohlich“ sind. Obwohl man als Kind von der Oma das elfte Gebot gelernt hat „Lass dich nicht verblüffen“, liest man Warnungen wie diese mit wachsender Aufregung auf den fünf DIN-A 4-Seiten, die sie einem vorher in die Hand drücken. Vier Unterschriften sind zu leisten. „Sollten Sie in der Kammer das Gefühl haben, nicht zurückzukommen, bleiben Sie ruhig. Es kann nichts passieren. Rufen Sie deutlich um Hilfe: Man kann Sie hören und wird Kontakt mit Ihnen aufnehmen.“ Die wie Hysterie anmutenden und im Einzelfall Hysterie fördernden Sicherheitshinweise sind kein integraler Bestandteil des Kunstwerks, wie ich später von Wolfgang Gantner, einem Gelatin-Mitglied, erfuhr, sondern der Vorsicht der Expo-Juristen geschuldet, aber empfänglich für jede Art von Angst, war ich entsprechend beklommen, um nicht zu sagen, hatte die Badehosen voll.
Doch die Chronistenpflicht verlangte durchzuhalten, schließlich wollte ich ausplaudern, was denn nun eigentlich in der Kammer zu sehen ist, nicht ahnend, dass dazu seit langem eine dpa-Meldung existiert. Ich kam mir vor wie Wolfgang Neuss, als der den Mörder eines Durbridge-Krimis verriet. Dem Schwimmmeister musste ich es aus blanker Eitelkeit auch ungefragt ankündigen. Der meinte nur: „Mach ruhig, es ist sowieso jedes Mal anders. Das verändert sich ständig.“
Mein erster Tauchversuch scheiterte. Ich drehte um. Das Herz pumperte hastiger, bänglich wuchs der Kleinmut, Panik ergriff nicht nur die luftgefüllten Hohlräume meines Körpers: „Lass es ein“, sagte er. Nein. Und dann war ich unten, dann war ich drin in der weißen Zelle und dachte nur an den Rückweg. Beim Auftauchen hätte ich beinahe das Ausatmen vergessen, das man nicht vergessen sollte, weil die Luft in der Lunge sich ausdehnt. Kann sie nicht oben raus, sucht sie sich einen anderen Weg und dann? Siehe oben. Ich platzte hingegen vor Stolz, dass ich mich überwunden hatte, erlebte das „Weltwunder“ als Euphrodisiaka. Im Überschwang hatte ich den Rest des Tages beste Laune. „Und was ist nun drin?“ Nichts natürlich. Oder du oder ich.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen