: Putin will Schaden begrenzen
In Murmansk denken viele, dass Putin und seine Regierung im Grunde zurücktreten sollten. In jedem anderen Land wäre dies selbstverständlich
aus Murmansk KLAUS-HELGE DONATH
Drei Stunden verbrachte Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittwochabend in dem Garnisonsstädtchen Widjajewo. In der geschlossenen Militärsiedlung jenseits des Nordpols haben die Behörden die Angehörigen der Besatzungen des gesunkenen U-Boots „Kursk“ untergebracht. In einer Polarlandschaft hinter Zäunen und Wegposten, hundert Kilometer von Murmansk entfernt. Vor der Ankunft des Kremlchefs war die Stimmung aggressiv, einige Leidtragende drohten sogar, dem Präsidenten ins Gesicht zu spucken. Für sie stand fest: Die Verzögerung der Rettungsmaßnahmen hat ihre Angehörigen das Leben gekostet. Und kein anderer als der Präsident und Oberkommandierende der Streitkräfte trägt die Verantwortung.
Vier Stunden ließ der Kremlchef die 500 Trauernden warten. Als er schließlich eintraf, war von Aggressivität nichts mehr zu spüren. „Er hat die Sache virtuos in die Hand genommen“, meint Aljona Werschina, deren Schwester ihren Mann verloren hat, „und genau das gesagt, was nötig war.“ Der Auftritt sei hochprofessionell gewesen. Er habe um Verzeihung gebeten und nicht versucht, sich zu rechtfertigen. Auf alle Fragen, auch die technischen, habe er informiert und konkret geantwortet.
Überdies soll Putin versprochen haben, der inhumanen und gefräßigen Bürokratie bei der Abwicklung der Formalitäten auf die Finger zu schauen. Jeder Familie garantierte er die Zahlung von zehn Jahren Sold im voraus. Das soll nur eine Maßnahme der geplanten Entschädigungen sein. Darüber hinaus erhält jede Familie eine Wohnung am Ort ihrer Wahl. „Für russische Verhältnisse ist es unglaublich, was er uns an Hilfe angeboten hat“, staunt Aljona, die glaubt, diesmal würden die Versprechen wohl tatsächlich eingehalten. Grund: Der angeschlagene Präsident muss sich um Schadensbegrenzung bemühen.
Auch auf den Wunsch der Betroffenen, die für gestern auf der Barentssee geplante Trauerfeier zu verschieben, ließ sich Putin ein, der nach dem Treffen sofort zurück nach Moskau eilte. Die meisten Familien bestanden darauf, dass die Trauerfeier erst stattfindet, wenn alle Leichen geborgen sind. Viele haben überdies ihre Hoffnung noch nicht aufgegeben, an Bord des Bootes könnten noch Überlebende sein. Einige Angehörige, die sich keinen Illusionen mehr hingeben, nehmen heute an einer Feier auf hoher See teil – ohne Putin. „Am Ende“, meint Aljona Werschina, waren alle froh, dass ihre Probleme geklärt waren, Putin ging und sie endlich schlafen konnten. „Heute spricht keiner mehr von ihm.“
Putin ist es offensichtlich gelungen, die erschöpften Verwandten zu besänftigen. Der erste und einzige Erfolg, den der Kremlchef in der U-Boot-Affäre bislang verbuchen kann. In Moskau setzte die Kritik an der Handhabung der Rettungsaktion indes auch am Tag der offiziellen Staatstrauer nicht aus. Der Föderationsrat gründete eine Sonderkommission, die der Ursache der Havarie und der verspäteten Hilfeleistung auf den Grund gehen soll. Wladimir Patronow, stellvertretender Vorsitzender der zweiten Parlamentskammer, begründete den Schritt mit mangelndem Vertrauen in die offizielle Darstellung: „Wir sind nicht davon überzeugt, dass die Mächtigen die Wahrheit sagen.“
Inzwischen sind auch der Chef des Geheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew, und Russlands Generalstaatsanwalt Ustinow auf dem Weg nach Murmansk am Nordmeer. Auch sie sollen die Ermittlungen aufnehmen. Ihre Nähe zum Kreml indes dürfte der Wahrheitsfindung nicht allzu förderlich sein.
Misstrauen ist gesät, und es ist fraglich, ob sich Wladimir Putin in Moskau so geschickt aus der Affaire ziehen kann wie in Widjajewo. „Eigentlich hätte die Regierung geschlossen zurücktreten müssen“, meinte eine junge Frau, die einen Freund verloren hat, „in jedem anderen Land wäre das selbstverständlich gewesen.“ Viele in Murmansk denken ähnlich.
Angesichts der Berichte über eine mögliche radioaktive Verstrahlung der Barentssee sagte ein Sprecher der norwegischen Strahlenschutzbehörde, die Messwerte um den Ort der Havarie seien normal. Die beiden Druckwasserreaktoren an Bord des U-Boots seien offenbar richtig heruntergefahren worden. Auch der Generalstabschef der russischen Armee, Wiktor Krawschenko, widersprach Angaben, nach denen in der Nähe des Unglücksorts erhöhte Radioaktivität gemessen worden ist. Eine Meteorologin aus Murmansk hatte dem Fernsehsender NTW zuvor gesagt, an der Küste seien erhöhte Strahlenwerte festgestellt worden.
Der Umweltschützer und ehemalige Atomingenieur der russischen Nordmeerflotte, Alexander Nikitin, sagte voraus, in spätestens sechs Wochen werde aus den Reaktoren atomare Strahlung austreten. Falls die Reaktoren beschädigt seien, werde dies sogar noch früher der Fall sein.
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