: Vorzeigeunternehmer im Kommunismus
Wohin verschlungene Lebenswege führen können: Alexander Panikin war schon unter den Sowjets ein findiger Unternehmer. In seiner Biografie beschreibt der russische Junge vom Dorf, der als fliegender Händler anfing und heute 2.000 Angestellte beschäftigt, seinen Weg ganz nach oben
von DOROTHEE WENNER
Dieses Buch möchte man unbedingt zur Lektüre ans Herz legen, und zwar ganz unterschiedlichen Menschen: dem angehenden Unternehmer, der Buchhändlerin mit Sinn für absurde Anekdoten, dem slawophilen Allesleser, der verzweifelt auf Engagements wartenden Schauspielerin, dem Freund vom Arbeitsamt und vielen mehr. Der größte Textilunternehmer Russlands beschreibt seinen rasanten Lebensweg, und das ist einfach sehr aufschlussreich.
Alexander Panikin, Jahrgang 1950, begann seine Karriere als renitenter Dorfjunge in Südrussland, dessen Vater – ein Kuban-Kosake – sich sehr bald von der Mutter trennte: „Seine Existenz hatte in unserer Familie außer mir keine sichtbaren Folgen hinterlassen.“ Leicht hatte er es nie, aber Panikin ist niemand, der sich wegen einer schweren Kindheit oder gemeiner Beamter jemals selbst bedauern würde. Dieser Mann scheint in Momenten größter Bedrängnis fast zwangsläufig damit zu rechnen, dass etwas schier Undenkbares passiert, was sein jeweiliges Geschäft rettet. Seine Biografie ist eine ununterbrochene Verkettung oft sehr amüsanter Schicksalsfügungen. Würde sein Leben verfilmt, würde die Biografie als Drehbuchvorlage bestimmt von manchem deutschen Fernsehredakteur als unglaubwürdig eingeschätzt werden. In Russland mag das anders aussehen, zumal es Panikin dort zu nationaler Berühmtheit gebracht hat.
Eigentlich entspricht Panikin dem Schulbuchideal eines Unternehmers im vorglobalisierten Zeitalter: ein Selfmademan, den geschäftliche Erfolge nicht des Geldes wegen interessieren. Die kapitalistische Herausforderung im noch sozialistischen Sowjetreich der 70er- und 80er-Jahre erscheint aus Panikins Sicht vielmehr wie ein Abenteuer, ein Spiel mit komplizierten Regeln, die zu beherrschen Spaß macht: „Den Wolf ernähren seine Beine.“
Panikins erster Traumberuf war Gitarrist. Dieses Ziel vor Augen, fuhr er nach Moskau und übte Tonleitern. Er begriff aber nach einem halben Jahr dieser „Zwangsarbeit“, dass aus ihm niemals ein Virtuose würde. „Ich beschloss, das Steuer völlig herumzureißen und zum Geldverdienen nach Sibirien zu fahren. Eines Sonntags stieg ich mit einem Freund durchs Fenster einer Behörde ein, und von dort führten wir Ferngespräche mit zahllosen Bezirksstädten in Sibirien, um herauszufinden, auf welchen Großbaustellen Arbeitskräfte gebraucht würden.“ Von Sibirien aus verschlug es Panikin zum Studium der Theaterökonomie nach Leningrad. Mit dieser teilweise nicht ganz ordentlich erworbenen Qualifikation und einigen realsozialistischen Ökonomieerfahrungen als Theaterdirektor an diversen Provinztheatern in der Tasche, begann für Panikin Anfang der 70er-Jahre das eigentliche Unternehmertum. Er produzierte und verkaufte die damals so beliebten Wandmasken in Leningrader und Moskauer Straßenunterführungen.
Mit dieser Geschäftsidee war Panikin nicht allein. Aber er perfektionierte die Herstellung und stach damit die Konkurrenz aus. „In einem Haushaltswarengeschäft hatte ich zufällig ein neue Politur mit dem Namen ,Selbstglanz‘ entdeckt. Ohne recht zu wissen warum, kaufte ich ein Fläschchen, kam in die Werkstatt und tauchte intuitiv eine zum Lackieren bereite Maske in das Präparat. Unmittelbar vor meinen Augen verwandelte sich die Maske vollkommen, sie nahm ein prachtvolles Elfenbeinweiß an.“ Nach den Masken kamen – immer hart an der direkten Nachfrage entwickelt und in Heimarbeit hergestellt – Plastikmäuse, Schmetterlingsbroschen und dann Babyschühchen. Letztere waren für Panikin das Sprungbrett in die wechselhafte Welt der Textilproduktion, in der er sich nach Höhenflügen und etlichen Tiefschlägen schließlich zum Tycoon emporhievte. Unter anderem durch ein Joint Venture mit einem Berliner Unternehmen, das er selbst gründete.
Die Anforderungen an einen aufstrebenden Moskauer Privatunternehmer waren in den 70er- und 80er-Jahren natürlich andere als etwa die im US-amerikanischen Mutterland des Kapitalismus. Ursprünglicher – Panikin würde sagen „mittelalterlicher“ – Pioniergeist war gefragt, und den besitzt er in großem Maß, ergänzt durch einen guten Riecher, eine brillante Schlitzohrigkeit, ein funktionierendes Netzwerk und vor allem durch Wagemut im Umgang mit den marode gewordenen sozialistischen Strukturen. Was seine Geschichte bemerkenswert macht, ist jedoch nicht so sehr das Streberhaft-Vorbildliche des Erfolgreichen, wie es etwa Panikins amerikanisches Pendant Lee Iacocca in seiner Biografie verkörpert. So beschreibt Panikin seinen eigentlichen Aufstieg zum Chef eines Betriebs mit 2.000 Angestellten weniger ausführlich als zum Beispiel die besonders schönen Erfolge als fliegender Händler vor dem Moskauer Kaufhaus Gum.
Es mag sein, dass man so eine klassische Unternehmerbiografie vor sozialistischer Kulisse in Zeiten der Global Player bereits mit romantischer Nachsicht liest. Aber unterhaltsam ist es und auf subtile Weise motivierend für alle, die selbst keine geraden Biografien haben und gerne nachlesen, wohin die Irrungen und Wirrungen eines verschlungenen Lebensweges führen können.
Alexander Panikin: „Das Maß der Freiheit“. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 208 Seiten, 36 DM
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