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Milli Görüș

Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüș e. V. (IGMG) ist die größte und wichtigste Interessenvertretung der in Deutschland lebenden Türken. Sie repräsentiert nach eigenen Angaben rund zehn Prozent der Deutschtürken. Milli Görüș ist keine religiöse, sondern in erster Linie eine soziale Bewegung, die auf ökonomische und gesellschaftliche Krisenerscheinungen reagiert.

Die türkischen Islamisten beziehen bis heute ihre Identität unter anderem aus der Bekämpfung der Reformen der “kemalistischen Revolution“, die den Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, in der Türkei mit Zwang durchsetzte.

Allerdings wäre es falsch, die nun auch in Europa ausgetragenen Kontroversen lediglich als einen importierten Konflikt zu betrachten. Die Attraktivität von Milli Görüș ist auch eine Reaktion auf die gesellschaftliche und politische Ausgrenzung der Einwanderer in Deutschland.

Die säkularen Gesellschaften in Europa werden von vielen rechtgläubigen Muslimen mit „atheistisch“ gleichgesetzt. Sie befürchten, die Europäer wollten auf diesem Weg ihre Religion zerstören. Gruppen wie Milli Görüș bestätigen den Verunsicherten, dass sie in einem „barbarischen“ und gottlosen Europa leben, und versuchen, sie so an sich zu binden. Ihr Angebot: In einem Umfeld mit anderer Religion und anderer Kultur schützen wir die muslimischen Kinder und ermöglichen ihnen eine islamische Identität.

Die Errichtung von Parallelgesellschaften ist im vollen Gang, seit die Möglichkeiten der sozialen und gesellschaftlichen Integration in den Neunzigerjahren aufgrund wachsender Arbeitslosigkeit abgenommen haben. Vor allem für unterprivilegierte Jugendliche, die sich von der Gesellschaft ausgestoßen fühlen, sind Gruppen attraktiv, denen man nicht durch Leistung, sondern quasi durch Geburt oder Abstammung angehört.

Die Funktionäre von Milli Görüș sind keine fundamentalistischen Finsterlinge, die zurück ins Mittelalter wollen. Sie legen viel Wert auf eine gute Bildung ihrer Elite, insbesondere der Frauen. Die Offenheit und Diskursfähigkeit gilt allerdings nicht für die Mehrheit der Mitglieder und Anhänger. Die Masse wird mit einfachen Parolen bedient und von der deutschen Öffentlichkeit abgeschirmt.

Milli Görüș ist die Europavertretung des türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan. Von Milli Görüș werden 1995 Millionenbeträge in Europa für Erbakans Wahlkampf in der Türkei gesammelt. Sechzig bis siebzig Millionen Mark sollen es sein. Bei den Wahlen wird Erbakans Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) mit 21 Prozent zur stärksten Partei. Im Juli 1996 wird Erbakan zum ersten islamistischen Ministerpräsidenten in der Geschichte der türkischen Republik gewählt. Doch schon ein Jahr später erzwingt das Militär Erbakans Rücktritt.

Im Januar 1998 wird die Wohlfahrtspartei vom Verfassungsgericht wegen Verstoß gegen die laizistischen Prinzipien der Republik verboten. Im März 2000 wird Erbakan wegen Separatismus zu einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt, da er die Bevölkerung in Muslime und Nichtmuslime spalte. Am 5. Juli 2000 wird das Urteil bestätigt und Erbakan soll für knapp fünf Monate ins Gefängnis. Bereits vor dem Verbot der Refah-Partei hat er die Nachfolgepartei organisiert – die Tugendpartei (Fazilet Partisi). In den letzten zehn Jahren schuf sich Erbakan mit derer Ideologie des Adil Düzen („Gerechte Ordnung“) für seine Bewegung weltweit eine milliardenschwere ökonomische Basis.

Die taz-Debatte der letzten Monate um den politischen Islam in Deutschland und weitere Informationen zum Thema sind unter www.aypa.de dokumentiert. Ab dem 8. September ist dort auch die Broschüre „Politik im Namen Allahs“ abrufbar. CD / ESE

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