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Das Trauma der Straflosigkeit

Bereits wenige Tage nach dem Staatsstreich vom 11. September 1973 hatten wir es mit Menschen zu tun, denen die Aggression schwere körperliche und psychische Verletzungen zugefügt hatte. Wir waren entsetzt und erstaunt über das, was da plötzlich über uns hereingebrochen war, und wir merkten sofort, dass wir keine Ahnung hatten, wie wir mit diesen Problemen auf neuropsychologischem Gebiet umgehen sollten. Eine solche „Pathologie“ existierte in den medizinischen Texten nicht, die man uns an der Universität gelehrt hatte.

Außerdem erschien uns der Versuch, die Störungen, die wir bei den betroffenen Menschen vorfanden, in Sprache, in Codes und Spezifika von medizinischen und psychiatrischen Störungen zu übersetzen, als Reduktion, die die enorme Transzendenz von Folter, Verschwindenlassen, summarischen Exekutionen, Repression und ständiger Verfolgung für das Sein des Menschen insgesamt in keiner Weise widergibt. Wir stellten fest, dass wir die Symptome oder Syndrome der Gefolterten schlechterdings nicht als Anormalität oder gar Krankheit betrachten konnten, denn in diesem Fall war ja der Akt der Folter[1]anormal und pathologisch, nicht die aus dieser Handlung entstandenen Symptome.

Die Folter provozierte höchst unterschiedliche und vielfältige Symptome, die so verschieden und einzigartig in ihrer Intensität und Konfiguration waren, wie sie in jeder gefolterten Person verschieden und einzigartig zum Vorschein kamen. Es gab Symptome und Anzeichen, die dominierten, aber es gab kein Postfoltersyndrom als solches.

Die Diagnose ist fundamental für die Entwicklung der Therapie. Das hieß für uns, dass wir in dieser Phase, in der wir die Ursachen und die Krankheitsgeschichte des Traumas untersuchten, zur Grenzüberschreitung in der Lage sein mussten. Zur Diagnose gehörte in unserem Fall, auch den Verantwortlichen, den Anderen zu untersuchen. Aus diesem Grund begannen wir, uns genau mit dem System und den Machtstrukturen der Verursacher zu beschäftigen.

Wir versuchten, die Kategorie der Aggression genauer zu umschreiben. Wir lebten nicht im Krieg – denn in Kriegen sind die Feinde Krieg führende Parteien, die das gleiche Recht auf Gewalt haben. In Chile kam die Gewalt einzig und allein aus einer Richtung: Die Diktatur herrschte, besaß das Monopol auf Gewalt und ersetzte willkürlich die bislang herrschende Ordnung. Diese Gewalt hatte eine mehrfach zerstörerische Dimension: für das Individuum, die Familie, die Gesellschaft und die institutionelle Ordnung, die das Land über seine lange Geschichte hinweg aufgebaut hatte. Diese Gewalt usurpierte alle Macht des Staates und transformierte sich so in institutionelle Gewalt. Die Definition von Gewalt als durchdringende, brutale Kraft fand hierin ihren heftigsten Ausdruck. Die Gewalt, die von der Staatsmacht ausging, hatte eine innere Logik, sie war keinesfalls verzweifelt, ihr wohnte weder Kummer noch die Unkontrolliertheit von Verzweiflung inne.

Im Gegenteil, die Aggression war mit Verstand überlegt und geplant worden. Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass die Gewalt, die vom Staat ausgeht, die massivste Ausformung von Gewalt, ja ihr Gipfel ist. Denn sie produziert ein System, eine Macht, die die entwickeltsten Eigenschaften des Menschen besetzt – Vernunft und Bewusstsein.

Zur Behandlung der Störungen brauchten wir interdisziplinäre und integrierte Teams, weil die Arbeit keinesfalls auf ein traditionelles Verständnis von Diagnose und Therapie reduziert werden konnte. Unsere Arbeit war ganz bewusst darauf angelegt, dass unterschiedliche konzeptionelle Sichtweisen und Erfahrungen zusammenflossen, um die Störungen zu behandeln. Und es war von zentraler Bedeutung, dass auch Betroffene selbst Mitglieder dieser Teams waren. Unwissentlich nahmen sie gegenüber den Therapeuten eine aktive Rolle als Führer, Informant und – warum soll ich es nicht zugeben – auch als Lehrer ein. Diese Art von gemeinsamer Intervention brach mit hergebrachten psychotherapeutischen Rollenmodellen, in der der Behandelnde neutral ist, sich auf einfaches Zuhören beschränkt oder die Position eines Analytikers und Deuters einnimmt.

Wir arbeiteten integriert, weil in diesem menschlichen Trauma die Interaktion zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem nicht teilbar ist. Beschäftigt man sich nur mit der einen Seite der Interaktion, läuft man Gefahr, die Realität aufzuspalten. Damit stand für uns fest, dass eine umfassende Studie der unterdrückten Person vorgenommen werden musste, zugleich aber auch eine genaueste Untersuchung des Unterdrückers, die alle Ebenen des Anderen, des Verantwortlichen umfassen würde. Also bestand unsere Aufgabe darin, nicht nur nicht nur die Verbrechen anzuprangern, sondern auch unsere Kenntnisse über die Funktionsweise des Systems und über die Unterdrücker öffentlich zu machen und damit zu sozialisieren, um ein kollektives Gedächtnis zu erlangen.

Um diesen Störungen zu begegnen, besaßen wir keinerlei therapeutische Regeln. Erst als sich das Konzept der Menschenrechte in Erklärungen und Konventionen über Folter, gewaltsames Verschwindenlassen von Personen und andere Verbrechens-Typifizierung entwickelte, verstanden wir, dass das Universum der Menschen, die wir behandelten, von einem Verbrechen in Mitleidenschaft gezogen worden war, das sich „Menschheits-Verbrechen“ oder „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nannte.[2]

Diese extremen Aggressionen, die plötzlich und unerwartet stattfinden und die das Opfer ohne psychische Vorbereitung treffen, erlebt man als eine Grenzsituation: „Das bedeutet, dass sie ihrem Charakter nach unvermeidlich, undurchschaubar und von unklarer Dauer ist. Man erlebt sie als permanente Gefahr an der Grenze des Todes. Bei den betroffenen Personen ruft diese Situation, ein Gefühl absoluter Ohnmacht hervor.“ (Bruno Bettelheim) Dieses akute Trauma verwandelte sich im Laufe der Jahre in ein andauerndes Ereignis, das, auch wenn es an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit ausgelöst wurde, für immer in der ganzen Person, die es erlebte, den Angehörigen, den Gemeinden, zu spüren ist, und so alle Einrichtungen des Landes beeinflusst, insbesondere dann, wenn dem Verbrechen die Straflosigkeit hinzugefügt wird.

Die Straflosigkeit fügt sich an die traumatischen Folgen des Schmerzes, Leids, Verlusts, der Trauer und Schutzlosigkeit an, weil sie große menschliche Werte, Glauben und Prinzipien angreift und Normen wie Regeln auf den Kopf stellt, die im Lauf der Menschheitsgeschichte entwickelt wurden. Mit der Zeit kann sie zu psychischen Störungen führen, die so schwer sind wie die der Folter.

Wir beobachteten eine zweifache Aggression – die Tat selbst und die ihr folgende Straflosigkeit. Wir erlebten tagtäglich die schweren und tiefgreifenden Störungen, die dadurch verursacht wurden. Wir sahen, wie sich die Angst verfestigte, dass es in Chile immer nur Teilwahrheiten und keinerlei Gerechtigkeit geben würde und dass der Hauptverantwortliche ungeschoren bleiben würde. Aus diesem Grund begannen wir 1988 in verschiedenen Regionen Chiles Untersuchungen unter dem Titel „Gerechtigkeit und Wahrheit“[3]. Neben diesen Untersuchungen führten wir psychotherapeutische und psychosoziale Arbeit bei Individuen, Familienangehörigen, Gruppen und Gemeinden durch.[4]

Als die erste Übergangsregierung die außerjuristische Untersuchungskommission für die Verbrechen der Diktatur schuf, hatten wir Bedenken, die unter anderem aus deren Titel herrührten: „Wahrheit und Versöhnung“. Denn damit war das ausgeschlossen, was am meisten herbeigesehnt und gesucht wurde: Gerechtigkeit. Ihr Fehlen führt an sich schon zu Störungen und sozialer Demoralisierung. Trotz unserer Zweifel arbeiteten wir mit der Kommission zusammen, forderten die Menschen auf, vor der Kommission auszusagen, und begleiteten sie bei ihren Aussagen.

Mit der Zeit zeichnete sich allerdings ab, dass sich die Hoffnung auf umfassende Wahrheit und vor allem Gerechtigkeit nicht erfüllen würde. Die absolute Verweigerung der juristischen Strafverfolgung wühlte alle psychischen Instanzen und Psychodynamiken bei den Betroffenen wieder auf. Die Störungen, die durch die Verbrechen verursacht worden waren und die wir in einer neuen Psychopathologie zu beschreiben begonnen hatten, traten wieder auf den verschiedenen Ebenen auf: im Gedächtnis, der Kommunikation, den Worten, dem Bewusstsein, den Empfindungen, im Gemüt, in der Zeitwahrnehmung, in den Darstellungen etc. In unserem Versuch der theoretischen Bearbeitung, bei dem wir festgestellt hatten, dass alle mentalen Funktionen durch die Verbrechen destrukturiert wurden, wurde uns zugleich bewusst, dass es uns im therapeutischen Prozess nicht gelang, die psychische Traumatisierung in all ihrer Tiefe zu bearbeiten.

Nun mussten wir feststellen, dass sich mit dem Verhalten der neuen Macht die Übergangsperiode zur Demokratie zu einer neuen Phase in der Wahrnehmung der Betroffenen herausbildete: zu der Zeit des „Angst-Schmerzes“ gesellte sich nun die Zeit der Sinnlosigkeit, der Bestürzung, der Verbitterung und der Scham hinzu, und zwar nicht nur bei Individuen, sondern auch in wichtigen Sektoren der Gesellschaft. Die Macht tat nichts, um die traumatische Vergangenheit zu überwinden. Im Gegenteil, sie lebte und akzeptierte eine „bevormundete Demokratie“, sie verlangte von der Gesellschaft und von den Einzelnen, die Erinnerung wegzusperren. Gleichzeitig akzeptierte sie, dass sich der Hauptverantwortliche, Pinochet, der in sich alle Aggressoren symbolisierte, in eine Ikone, ja patriachale Kultfigur des Militärs und der Rechten in Chile verwandelte. Es war die Macht des strafenden Vaters, die wiederauferstand, als man erlaubte, dass Pinochet weitere acht Jahre Generalstabschef der Streitkräfte blieb, anschließend Ehrengeneral, Senator auf Lebenszeit – und scheinbar unsterblich wurde.

Am 4. Juli 1996 wurde vor dem spanischen Gerichtshof ein Verfahren gegen Pinochet und andere Verantwortliche eingeleitet. Mit neuer Hoffnung, die wir als „heilsam“, als ein wunderbares therapeutisches Mittel empfanden, das Mediziner, die dieses menschliche Drama nicht kennen, kaum nachvollziehen können, machten wir uns zum Teil dieses Prozesses. Wir fuhren persönlich im Juni 1997 nach Spanien, um den Richtern all unser Material über die Verbrechen, die Verantwortlichen, die Orte, die Zeugen etc. alle unsere Untersuchungen und Forschungen zu übergeben.

Wir sind von zwei Dingen überzeugt. Erstens: Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Chile begangen worden waren, sind zweifellos ein zentraler und dramatischer Teil der Moderne. Zweitens: Bleibt es bei der Straflosigkeit, dann trägt sie dazu bei, dass sich die Verbrechen in der Zeit, in der Geschichte, im kollektiven Unterbewusstsein unentwegt wiederholen.

Nach der Verhaftung Pinochets in London führten wir eine Umfrage bei den Überlebenden und Familienangehörigen der verhafteten Verschwundenen und der aus politischen Gründen Exekutierten durch. Es zeigte sich, dass die meisten von ihnen sofort „riesige Freude“ empfanden, die sie in dieser intensiven Form seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatten. Viele waren vor Optimismus euphorisch, weil sie sich wünschten, dass sie nun in allernächster Zeit das Schicksal ihrer Angehörigen erfahren würden. Es gab aber auch Menschen, bei denen die Symptome und besonders die Ängste zurückkehrten, weil die Erinnerung wiederbelebt wurde und das traumatische Erlebnis so klar vor Augen stand, als wäre es gestern passiert. Die Verschwundenen oder Exekutierten tauchten aus der verblassten Erinnerung wieder auf. Es wiederholten sich in der Erinnerung die Szenen von Verhör und Folter. Paradoxerweise gab es Familienangehörige oder Überlebende, die zum ersten Mal mit der Tiefe ihres Traumas, das sie verleugnet und unterdrückt hatten, konfrontiert wurden und um medizinisch-psychologische Assistenz baten.

Bei aller Freude über die Verhaftung kehrte bei vielen auch die Angst wieder. Und diese Angst erfasste weit mehr Menschen als nur den Kreis der Diktaturopfer. Die Parteigänger Pinochets und das Militär reagierten auf dessen Verhaftung mit Drohungen. Auch unsere Einrichtung wurde von Unbekannten überfallen. Unseren verantwortlichen Mitarbeitern wurde empfohlen, Leibwächter zu engagieren, weil man für ihre Sicherheit nicht garantieren könne. Zur Freude kam die Angst, die schmerzhafte Erinnerungen an die Zeit des Terrorismus und des Schweigens wachrief. Sie hat viele bis heute nicht verlassen.

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