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O Sport, du bist die Schönheit

Was sich Coubertin einst erhoffte, wird in den TV-Inszenierungen Olympischer Spiele Wirklichkeit: Der Traum von Olympia als Gesamtkunstwerk. Die Perfektion der Überwältigungsmaschinerie aber findet sich in den Werbespots von Nike und Co.

von MISCHA DELBROUCK

„Dabeisein ist alles.“ Was früher als Motto für die Sportlerinnen und Sportler aus aller Welt gedacht war, ist heute zum Selbstverständnis eines globalen TV-Publikums geworden. Wenn am Freitag die Herren der Ringe in Sydney zum 27. Olympischen Fest der Neuzeit laden, werden die Bilder der Eröffnungsfeier in 220 Länder übertragen. Das Fernsehen schafft eine gigantische Gemeinschaft von Olympia-Interessierten, die allein dadurch vereint werden, dass alle dieselben Bilder sehen: Schaut hin, weil alle hinschauen.

15.000 Journalisten werden dafür sorgen, dass den Daheimgebliebenen während der beiden olympischen Wochen nichts entgeht: kein Schritt auf der Tartanbahn, kein Interview, keine Siegerehrung. Jeden Augenblick könnte in Sydney etwas passieren, das Sportgeschichte schreibt. Alles ist wichtig, jedes Detail wird diskutiert. So werden aus Zahnpastatuben nationale Fragen. 15.000 Journalisten: Das bedeutet, auf zwei teilnehmende Sportler kommen drei Medienvertreter. Endgültig sind Olympische Spiele damit im Wesentlichen zu einem Event der Fernsehanstalten geworden, wobei immer deutlicher wird, dass die Sender die Sportereignisse nicht abbilden, sondern inszenieren. Die Dramaturgie setzt lange vor dem ersten Startschuss ein, indem sie die wichtigsten Athletinnen und Athleten in kurzen Features vorstellt, hört mit dem Siegerinterview noch nicht auf und ist bemüht, die Emotionen aller Beteiligten, den Jubel, das Leiden, den Kuss des Eherings, das Gebet zu Gott einzufangen und über Tage zu konservieren. „Wettkämpfe“, so der Sportphilosoph Gunter Gebauer, „sind Spektakel der Gefühle.“

Don’t argue. Just believe

Angesichts des emotionalen Zaubers, den Olympia entfaltet, werden kritische Untertöne in den Olympiastudios von ARD und ZDF kaum zu hören sein. Die Kehrseite der Gold-, Silber- und Bronzemedaillen, die in Phänomenen wie Dopingproblematik oder Mädchenturnen nur schlagwortartig aufblitzt, werden wir nicht zu Gesicht bekommen. Zu groß wäre die Gefahr der Desillusionierung. „Don't argue. Just believe“, lautet das Credo der Olympischen Bewegung, wie IOC-Generaldirektor François Carrard einmal formulierte.

„Don't argue. Just believe“ ist auch der Leitgedanke der Eröffnungsfeiern. In einer Mischung aus Massenchoreografien, Fernseh-Show-Elementen und quasi-religiöser Liturgie initiiert sich Olympia in den Zeremonien als Mythos, dessen Leistung es ist, nicht nur Menschen aller Länder, sondern auch alle gesellschaftlichen Lebensbereiche wie Politik, Wirtschaft, Sport, Kunst und Medien unter dem Dach der fünf Ringe zu vereinen. Solche Verbindlichkeit hatten in früheren Jahrhunderten allenfalls die Religionen. In der säkularisierten Gegenwart übernimmt Olympia ihre Rolle: als Zwei-Wochen-Instant-Religion. Die Analogien beispielsweise zum Katholizismus sind weitreichend. Die Fans bilden die Gemeinde, die Sportstars sind die Heiligen und ihre Körper die anbetungswürdigen Reliquien. Das Fernsehen übernimmt die Verkündigung des Evangeliums, das IOC ist so mächtig wie der Vatikan, anstelle des ewigen Lichts brennt das olympische Feuer. Fraglich ist jedoch, was den Kern dieser Sport-Religion ausmacht. Wer Exegese betreiben will, der muss sich auf die Spuren von Baron Pierre de Coubertin, dem Gründer und geistigen Übervater der modernen Olympischen Spiele, begeben.

Angesteckt von der düsteren Stimmung des Fin de Siècle empfand der langjährige IOC-Präsident seine Umgebung als dekadent, zerrüttet und sozial vereinsamt. Sinnfällig für den Verfall der Kultur sah er den Verfall der menschlichen Körper. Daher kam dem Sport eine doppelte Heilkraft zu. Coubertin verstand Sport nicht nur als Kräftigung der Physis, sondern auch als Training für den Wettbewerbscharakter einer Gesellschaft, die von Fortschrittsdenken und Leistungsmaximierung gekennzeichnet war. In diesem Sinne waren die Körper der frühen Olympiateilnehmer Träger politischer Botschaften.

Der französische Olympia-Pionier ahnte, dass sich seine Ziele nur als große, weltumspannende Bewegung verwirklichen ließen, und kreierte den Sport als „religio athletae“, als Zivilreligion. Den Egoismus seiner Zeit geißelnd, predigte Coubertin den Zusammenhalt der Gesellschaft und nannte die Olympischen Spiele begeistert „Feste der Einheit des Menschen“. Er charakterisierte die Spiele als die Wiederbelebung der antiken Feiern und schuf einen mythischen Horizont, unter dem sich die Jugend der Welt, angefüllt mit Idealen wie Frieden und Völkerverständigung, vereinigen sollte.

Coubertin verstand die Eröffnungsfeiern als Messen seiner Religion und fand sie erst würdevoll genug, nachdem sie durch kultische Momente ritualisiert wurden, nachdem der olympische Eid vor den Fahnen der verschiedenen Länder gesprochen wurde, die olympische Hymne gespielt, die olympische Fahne aufgezogen und das olympische Feuer angezündet wurde. Teilnehmer und Zuschauer der Zeremonien sollten sinnlich-emotional angesprochen werden, nicht intellektuell, sie sollten den Geist der Veranstaltung erfahren, nicht ihn verstehen. Und dadurch, dass alle dasselbe fühlten, durften sie sich als große Gemeinschaft begreifen.

Geburtsstätte Bayreuth

Einmal hat Coubertin sehr genau definiert, wo die Geburtsstätte des modernen Olympia zu finden ist: in Bayreuth. Hier, bei den Festspielen Richard Wagners, hatte er erstmals die Vision, wie Olympia aussehen könnte, und in vielen Bereichen lesen sich Coubertins Ausführungen zum Olympismus wie eine Fortsetzung von Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk.

Auch Wagner wähnte seine Gesellschaft nach dem Zusammenbruch religiöser und politischer Utopien in einer schweren Krise. Angewidert von Mode, Luxus und Geldgier seiner Tage, suchte er in der Kunst nach einem Programm für die Ewigkeit und das echte Leben, das die Menschen wieder miteinander verbinden sollte. Der Bayreuther Götterdämmerer, der die Mythosferne seiner Ära beklagte, baute auf die Verbindlichkeit von Mythen, um sein Ziel, Menschen wie Künste wieder zu vereinen, zu erreichen. In diesem Sinne sollte das „Kunstwerk der Zukunft“ „lebendig dargestellte Religion“ sein, eine Religion, die sich dem Publikum über Gefühle, über das Zusammenspiel von Bildern, Zeichen, Gesang, Texten und Orchestersound sinnlich vermitteln sollte. Der Verstand ist zwar nicht aus-, aber nachgeschaltet: Erst müsse das Gefühl sagen: „So muss es sein“, bevor der Verstand bestätigt: „Ja, so ist es.“ Kunst ist demnach keine Sache des Intellekts, im Gegenteil: „Kunst“, so Wagner „hört da auf, wo sie als Kunst in unser reflektierendes Bewusstsein tritt.“ Kunst ist lebendige Erfahrung.

Coubertin und Wagner bilden ein harmonisches Doppel. Das Olympia Coubertins ist ein Gesamtkunstwerk im Sinne Wagners, nur dass der Sport an die Stelle der Kunst tritt. Dieser Sport hat allerdings durchaus Ähnlichkeiten mit den Künsten. In einer Ode an den Sport, die Coubertin 1912 verfasste und mit der er absurderweise auch noch den Literaturwettbewerb der Olympischen Spiele von Stockholm gewann, heißt es programmatisch:

„O Sport, du bist die Schönheit!

Du formst den Körper zu edler Gestalt.“

Sport als besondere Form der Ästhetik, Sport als Kunst, als Körperkunst, deren Produkt, der durchtrainierte männliche Körper, sich im Glanze der anderen Künste und der Natur „zur Schau stellen“ sollte: „Stellen Sie sich den griechischen Athleten im Sonnenglanz vor, durch Musik erhöht und eingefügt in den Bau von Säulenhallen. So“, war sich Coubertin sicher, „wurde einstmals an den Ufern des Alphäus der schillernde Traum des antiken Olympismus geboren.“ So träumte auch Coubertin seinen Olympiatraum: Olympia als Gesamtkunstwerk.

Wer sich die heutigen Fernsehübertragungen von Sportereignissen ansieht, der versteht, was Coubertin damals vorschwebte: Ob in Werbeeinspielungen, in Trailern, in den so genannten Bildern des Tages oder in den Aufzeichnungen der Wettkämpfe selbst, überall zoomt die Kamera auf die wenig verhüllten Körper der Johnsons und Greens, der Kournikowas und Almsicks. Exzessiv stellen die männlichen Sprint-Asse alle Konturen ihrer austrainierten, muskelbeladenen Gestalt „zur Schau“, bauchfrei präsentieren sich ihre weiblichen Pendants. Gar nichts mehr hatten die Olympiateilnehmerinnen und -teilnehmer an, die für den Aktfotoband „The Sydney Dream“ posierten. Das ist der Stoff, aus dem die olympischen Träume gewoben sind. Im individuellen Streben nach dem Idealkörper drückt sich der Kern der olympischen Idee wesentlich besser aus, als in den weitgehend populistisch formulierten Zielen von Frieden und Völkerverständigung. Multimedial vermarktet erscheinen uns die Körper der Stars als Abbilder des olympischen Gottes der Gegenwart. Sie wirken auch deshalb so attraktiv, weil sie das versprechen, was viele sich wünschen: Ruhm, Erfolg und Reichtum.

Das Zoom ist die Idee

Das Fernsehen zerlegt die Körper und setzt sie wieder zusammen. Es präsentiert uns in Superzeitlupe Bilder von Muskeln, deren einzelne Bewegungen ihren höheren Sinn erst im Zusammenspiel entfalten. Beeindruckende Aufnahmen vom Stadion, dem Olympischen Feuer und den Zuschauermassen erhöhen diese Bilder ebenso wie bombastische Musik, eine dramatisierende Kommentatorenstimme oder die Anfeuerungen des begeisterten Publikums.

Wenn Coubertin und Wagner die Entscheidung im Zehnkampf oder die Werbespots von Nike und Adidas sehen könnten, wären sie restlos begeistert von der technischen Perfektion einer Überwältigungsmaschinerie, die Bilder, Emotionen und Mythen im Minutentakt produziert. Es ist das Zusammenspiel von Medien, Kultur- und Werbeindustrie, das das ermöglicht, was Wagner und Coubertin einst visionierten. Es ist der Sport in seiner heutigen Form, der alte ästhetische Träume wahr werden lässt. „A dream comes true“ lautete das Motto der Spiele von Atlanta.

Als sich Franz Beckenbauer vor Jahren in Bayreuth zeigte, hob er damit nicht nur den Sport auf eine Stufe mit der Kultur, sondern degradierte die Bayreuther Festspiele gleichsam in die zweite Liga der Gesamtkunstwerke. „Was ist schon ‚Der Ring des Nibelungen‘ gegen die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft?“, schien er prophetisch zu fragen. Oder um es mit dem Publizisten Helmut Böttiger auszudrücken: „Was besagt ein Shakespeare’scher Theatertod gegen das entscheidende Kopfballtor in der 92. Minute?“

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