: Haggern um Schobbe
Wahre Lokale (37): Im „Benderhof“ in Kaiserslautern steht die Zeit still
Gibt es Tröstlicheres in diesen rasenden Zeiten als die Erfahrung, dass es inmitten des närrischen Gewurschtels einen Ort gibt, an dem die Zeit stehen geblieben ist? Über 15 Jahre ist es her, dass ich Kaiserslautern den Rücken gekehrt habe, um mich in großstädtisches Gewusel zu stürzen. In Kaiserslautern, in der Gaststätte „Benderhof“ jedenfalls, sind in der gleichen Zeit höchstens vierzehn Tage vergangen. Dies ist mein Eindruck, als ich nach langen Jahren im norddeutschen Exil den Benderhof wieder betrete. Nach der ersten Bestellung schrumpft die seit dem letzten Besuch vor fünfzehn Jahren vergangene Zeit von vierzehn Tagen auf einen zusammen, es kommt mir vor, als sei ich erst gestern Abend von hier weggegangen.
Noch immer sitzt der Herr Claude, der dem vollidiotischen Usus der Siebzigerjahre gemäß ausschließlich mit Anrede und Vorname tituliert wird, lustlos am Tresen, stiert und murmelt eine somnambule Begrüßung in sein Bier hinein, als sei mein Besuch im Benderhof nach so langer Zeit ebenso selbstverständlich wie der des Wirtes. Im Sicherheitsabstand von zwei Metern sitzen, wie damals, Gaggi und Trixi, äußerlich nicht einen Deut verändert, nicht ergraut, keine Falten, keine neuen Frisuren oder neumodische Klamotten. Gaggi sah früher nicht jung, jetzt sieht er nicht alt aus, Trixi besteht nach wie vor aus herzallerliebstem Lächeln und 20 Kilo wallendem, schwarzem Haar. Sicher, jenseits des Benderhofs sind bewegende Dinge passiert, die Menschen in Kaiserslautern haben gelitten und gefeiert, einmal ist der FCK ab- und einmal aufgestiegen, zweimal ist er Meister, Gaggi und Trixi sind Oma und Opa geworden, aber all das tangiert das Leben im Benderhof nicht. Sofort sind wir bei den alten Themen, die direkt an den vorherigen Abend anschließen könnten: Wie schwer es geworden ist, einen vierten Mann für Doppelkopf zu finden, weil die alten Kollegen zu häuslich geworden sind, dass der Herr Claude sich noch immer weigere, Doppelkopf zu lernen, weil er sich dann nicht mehr auf das Bestellen und Trinken seiner Biere sowie das Hineinstieren in selbige konzentrieren kann, wie bescheuert die neue Vereinsführung des FCK (pfälzisch: „vum Betze“) ist. Übrigens sind nur äußerst selten Studenten oder auch nur ehemalige Studenten im Benderhof, obwohl er eigentlich aussieht wie eine typische Studentenkneipe und typische Studentenkneipenmusik läuft.
Noch immer bildet das Billard das Zentrum der Wirtschaft, noch immer sitzen Billardspieler und Kiebitze auf den breiten Fensterbänken aus dunklem Holz vor den garagentürgroßen Fenstern, die sich, nach umgekehrtem Eisenbahnprinzip, von unten nach oben aufschieben lassen und nie geputzt werden, weil sie von dünnen Messingstäben in jeweils ungefähr viertausend winzige Rechtecke unterteilt werden. Im Sommer werden sie aufgeschoben, dann ragen die Hintern der Kiebitze auf die Richard-Wagner-Straße, das sieht dann auch von außen und innen arschgemütlich aus. Tische, Stühle, Tresen, Boden und Decke sind aus dunklem oder von 30 Jahren Tabakqualm dunkel gewordenem Holz. Doch was keiner der Gäste in seiner Wohnung haben möchte, weil’s aussieht wie bei Försterliesel im dunklen Partykeller, ist hier noch arschgemütlicher als die Ärsche auf der Straße. Das können auch die beiden Plastiksäulen (das einzig Neue seit 1985) nicht verhindern, die kurz unter der Decke enden und dem Benderhof wohl einen Hauch von Intellektualität, Modernität oder Hrblschwppsität geben sollen.
Auch das für mich wichtigste Möbel ist noch da, das Tischfußballspiel („Haggersche“). Wenn ich mich nicht irre, ist es sogar noch derselbe rechte Verteidiger der blauen Mannschaft, der klappert und wackelt. Und es sind noch immer dieselben Stammgäste, die zu denselben Bedingungen kickern (haggern): Verlieren kostet einen halben Liter Bier (Schobbe), zu null einen ganzen (Stää).
Und selbst die Gegner sind nicht besser geworden, ich gewinne so manchen Schobbe, so dass es mich bald zur Herrentoilette treibt. Und sogar dort ist es so, wie es dort immer war nach zu viel Bier, plötzlich kippt die Wand zur Seite, ich muss mich abstützen, um nicht in die Pissrinne zu stürzen. Doch auf Gaggi, meinen alten Kapitän und Libero aus fußballerisch aktiven Zeiten, ist wie immer Verlass. Er justiert meinen Körper ins Lot und klärt mich darüber auf, dass ein möglicherweise gewitzter, vielleicht aber auch betrunkener oder bescheuerter Handwerker die Fliesen diagonal statt waagerecht verlegt hat. Ich verstehe, doch ohne Gaggis Beistand gehe ich trotzdem nicht mehr Wasser lassen. Zu viel Veränderung im Benderhof macht mir Angst.
JOACHIM FRISCH
Hinweis:Es kommt mir vor, als sei ich erst gestern Abend von hier weggegangen
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