auf augenhöhe: RICHARD ROTHER über Solidarität der Underdogs
Die Jagd am Alex
Das Leben ist Kampf – und der Alexanderplatz eine Arena: Hier hetzen Kids Basketbällen und schnorrende Punks Groschen hinterher; dort jagen sich Sonntagseinkäufer gegenseitig Schnäppchen und Touristen ein Plätzchen am Springbrunnen ab. Manchmal treten die Loser der Dienstleistungsgesellschaft auch gegeneinander an: Wachschützer gegen Ladendieb, Mann gegen Mann.
Der Kampf beginnt diesmal am Kaufhof-Eingang neben der Parfümerie, in der die Prolo-Düfte von Hugo Boss über die Theke gehen, als gäbe es Begrüßungsgeschenke für die Ostberliner. Startschuss ist das Piepsen der Elektroschranke. Der Ladendieb, ein etwa 40-Jähriger mit zotteligen Haaren und speckiger Jeansjacke, versucht einen Frühstart. Zackzack, durch die Schranke, und bevor der Wachschützer am Eingang merkt, was geschieht, hat der Dieb schon zehn Meter Vorsprung. Der Wachmann, ein Mittfünziger mit grauen Schläfen und Stasi-Blick, beginnt schnaufend die Verfolgung.
Aber er rechnet nicht mit einem Hürdenlauf. Urplötzlich stellt sich ein junger Mann – Typ Politologiestudent, der in einem Call-Center arbeitet – in den Weg. Ein Body-Check, und die Solidarität der Underdogs bringt den Uniformierten ins Straucheln. Der Wachmann rappelt sich wieder hoch, zweifelnd, ob er sich dem Dieb oder dem Studenten widmen soll. Er entscheidet sich für den Dieb.
Der aber konnte seinen Vorsprung kaum ausbauen, weil er, offensichtlich angetrunken, ins Wanken gerät. Während die Passanten schüchtern aus dem Weg gehen, macht der Wachmann Meter um Meter gut. Bis ihm der Zufall hilft: Ein stämmiger, kurzhaariger Mann springt von der Seite auf den Dieb zu, reißt ihn zu Boden und setzt triumphierend sein rechtes Knie auf dessen Schulter. Zivilbullencourage gegen Ladendiebe. Der Wachmann eilt hinzu, fesselt dem Dieb die Hände auf dem Rücken. Eine Flasche Ballentine’s kullert auf den Beton.
Auch der Student ist zur Stelle: „Lasst den Mann in Ruhe!“ Der Zivilpolizist, mit Knopf im linken Ohr, herrscht ihn an: „Verpiss dich, sonst kommste gleich mit.“ Der Student verlässt schnellen Schrittes die Kampfarena. Und der Wachmann zerrt den Whisky-Dieb in Richtung Einkaufszentrum.
Der Zivilpolizist gönnt sich nach getaner Arbeit etwas Gutes: eine Bratwurst. Die ersteht er ein paar Meter weiter bei einem der bedauernswerten Bauchladenwürstchenverkäufer, die mit ihrem 20 Kilo schweren Grill über der Schulter überall in Berlin herumstehen und die Wurst ein paar Groschen billiger verscherbeln. Bei seiner Bestellung schaut der Möchtegern-Bruce-Willis den Verkäufer stolz an, Anerkennung für seine Action heischend. Doch der Würstchenmann gönnt ihm nur eines knappen Verkäuferblick, bevor er fast abfällig sagt: „Zwei sechzig. Ketchup oder Senf?“
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