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Stolzer Weg zum Arbeitsamt

Vor einem Jahr protestierten Beschäftigte mit einer wochenlangen Besetzung gegen die Schließung des Alcatel-Kabelwerks in Neukölln. Heute trainieren sie Bewerbungen in einer Auffanggesellschaft

von RICHARD ROTHER

Von geschäftigem Treiben keine Spur. Ab und an fährt ein Gabelstapler große Kabeltrommeln über den Hof, die andernorts hergestellt wurden. Im ehemaligen Alcatel-Kabelwerk im Westberliner Arbeiterbezirk Neukölln wird längst nichts mehr produziert, nur der Vertrieb ist hier – noch – beheimatet. Sogar das angerostete Werkstor am Ende der Sonnenallee wirkt irgendwie traurig – die herbstlichen Regentropfen fließen die Gitterstäbe hinab.

Vor einem Jahr sah hier alles ganz anders aus. Das Tor war mit bunten Transparenten behängt, mehrere Arbeiter standen rund um die Uhr Wache: Betriebsbesetzung. Mehr als 100 Beschäftigte sorgten damals für Furore. Fünf Wochen lang blockierten sie ihr Kabelwerk – die erste Betriebsbesetzung in Westberlin seit dem Kriegsende: Isomatten in der Kantine, Tischtennis in der Werkshalle und Grillständer auf dem Firmenparkplatz. Die Beschäftigten wollten damit die Schließungspläne der Konzernleitung durchkreuzen. Ihr Hauptargument: Das Berliner Werk des französischen Elektronikkonzerns schrieb schwarze Zahlen. Zudem sei es aus Neukölln nicht wegzudenken.

Rasender Industrieabbau

Argumente, die gerade in der Hauptstadt immer wieder zu hören sind, grundsätzlich aber nicht viel ausrichten. Die Deindustrialisierung – sie ist in Berlin ein rasender Prozess. Seit der Wende sind rund 300.000 Industriearbeitsplätze weggefallen, ein Ende ist nicht abzusehen. Obwohl Berlin schon heute eine deutlich geringere Industriedichte als vergleichbare Großstädte hat.

Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht ein längst zusammen geschrumpfter Traditionsbetrieb geschlossen wird. Die Alcatel-Konkurrenz, das Kaiser KWO-Kabelwerk, machte im Juni dicht. Mehr als 300 Menschen verloren ihren Job. Und vor einer Woche hat die Bosch Telecom GmbH das Ende ihrer Berliner Produktion von Auto-Antennen besiegelt. 240 Stellen weniger. Die Zukunft ist auch bei weiteren Traditionsbetrieben ungewiss, etwa bei der Siemens Verkehrstechnik oder dem Pirelli-Kabelwerk. Schließungsängste geistern durch die Werkhallen.

Alcatel war somit kein Einzelfall. Dennoch kämpften – einzigartig – die Alcateler ihren Kampf gegen die Windmühlen des Marktes. Und erfuhren einige Solidarität: Nachbarn kamen vorbei, brachten Suppe mit. Gewerkschafter gaben sich die Torklinke in die Hand, sammelten Spenden. Politiker aller Couleur schauten vorbei: Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus standen bevor.

Ende September waren die Besetzer sogar nach Frankreich gefahren, um im strömenden Regen direkt vor der Alcatel-Konzernzentrale im schicken Pariser Westen zu demonstrieren. Manche haben geheult – weil sie nicht mitdurften. Im Bus war nur für fünfzig Menschen Platz.

Die Proteste haben, wie in anderen Fällen auch, nichts genützt. Oder nur wenig. Die Schließung des Alcatel-Werkes wurde nicht verhindert. Nicht einmal verzögert. Dennoch fühlen sie sich die Ex-Alcateler heute nicht als Verlierer. „Wir würden wieder besetzen“, sagt der ehemalige Betriebsratsvorsitzende Wolfgang Klose. Mehr als 30 Jahre arbeitete er bei Alcatel. „Das gibt man nicht so schnell auf.“

Trotz aller nach außen getragenen Entschlossenheit – die Beschäftigten waren damals realistisch. Irgendwann sei es nur noch darum gegangen, den Preis für die Schließung hochzutreiben, sagen sie heute. Mit Erfolg: Nach der Besetzung standen immerhin 18 Millionen Mark für einen Sozialplan zur Verfügung. Ein erklecklicher Teil davon ging in die so genannte Auffanggesellschaft.

Nur ein gutes Dutzend Alcateler hat damals Berlin verlassen, ist in anderen Werken in Nürnberg, Frankreich oder Belgien untergekommen. Knapp 130 Mitarbeiter wechselten in die Auffanggesellschaft. Die garantiert ein festes Einkommen für mindestens 21 Monate. Immerhin bekommen sie hier 80 Prozent des ehemaligen Lohnes, deutlich mehr als die Alternative Arbeitslosengeld. So gesehen hat sich das Kämpfen wirklich gelohnt: Im Jahr kommen einige tausend Mark mehr zusammen, und auch die Rente sinkt weniger als im Falle der Arbeitslosigkeit.

Auch wenn somit weiter Geld auf ihre Konten fließt, wirklich beschäftigt sind die Betriebsbesetzer nicht. Sie besuchen heute in einem Aus- und Weiterbildungszentrum Kurse, die allerdings nicht permanent stattfinden: Bewerbungstrainings, Computer- und Existenzgründerseminare. Den Rest der Zeit sitzen sie zu Hause. Die Warteschleife vor dem Arbeitsamt. „In Berlin braucht niemand Kabelwerker“, sagt Klose. Nur ein gutes Dutzend hat bereits einen neuen Job gefunden oder eine Umschulung begonnen. Wie es persönlich weitergehe – Klose zuckt mit dem Schultern.

Werk wird Parkplatz

Den Entlassenen anderer Betriebe geht es ähnlich. Die Kaiser-KWO-Mitarbeiter sind mittlerweile in der selben Auffanggesellschaft gelandet. Sogar die Sozialpläne gleichen sich: ein bis zwei Jahre gesichertes Einkommen und Qualifizierungen. Der einzige Unterschied: Die Alcateler mussten dafür streiken, in anderen Fällen reichten kleinere Protestaktionen, begleitet von Verhandlungen des Betriebsrates mit der Geschäftsführung.

Bei Alcatel in der Sonnenallee wird derzeit wieder verhandelt: über die Zukunft der rund 30 verbliebenen Beschäftigten in Vertrieb und Marketing. Sie sollen in den nächsten Monaten an einen anderen Standort ziehen. Der Versand soll ausgegliedert werden, eine Spedition die sechs Mitarbeiter übernehmen. Mit einer Beschäftigungsgarantie von einem Jahr.

Die Manager vom Estrel-Hotel, das dem stillgelegten Werk gegenüberliegt, sollen bereits ein Auge auf die Industrie-Immobilie geworfen haben. „Die brauchen einen Parkplatz“, sagt ein Ex-Alcateler. Man sei sich nur noch nicht über den Preis einig. Es gebe bereits Verhandlungen über das Grundstück, bestätigt eine Alcatel-Sprecherin. Zu Verhandlungspartner und -stand könne sie allerdings keine Stellung beziehen.

Eines ist sicher: Die endgültige Abwicklung des Standortes wird leiser über die Bühne gehen als die Werkschließung vor einem Jahr. Ihren Aufruhr von damals haben die Besetzer jedoch keine Minute bereut. Das sei eine Erfahrung fürs Leben gewesen, sagen sie. „Die Kollegen sind stolz darauf“, meint der IG-Metall-Funktionär Klaus Wosilowski, der die Proteste mit organisiert hat. Psychisch helfe das ungemein – gerade in den schwierigen Zeiten, denen die meisten entgegensehen.

Die Proteste hätten sich gelohnt, meint auch Ingo Woitzek. Der Exbesetzer und heutige Betriebsrat ist sich sicher: „Die Kollegen in der Auffanggesellschaft haben bessere Chancen, etwas Neues zu finden, als wenn sie gleich in die Arbeitslosigkeit gegangen wären.“

Im Oktober werden die Exbesetzer noch einmal zusammenkommen: zum Feiern. Schließlich kamen vor einem Jahr mehrere zehntausend Mark an Solidaritätsspenden für die Besetzer zusammen. Von dem Geld ist noch einiges übrig – fight for your right to party.

Nicht schwer auszumalen, was auf dem Fest passiert. Die Ex-Alcateler werden Buletten und Kartoffelsalat essen, Bier trinken und sich mit Tränen in den Augen auf die Schultern klopfen. Und Exbetriebsrat Klose wird irgendwann eine kleine Rede halten: Die Kollegen könnten stolz sein auf die Besetzung, wird er sagen. Denn dabei hätten sie gegelernt, was man auf keinem Umschulungsseminar lernt: „Wer sich nicht wehrt, kann gleich einpacken.“

Vielleicht wird sich irgendwann später ein Kabelwerker auf den Weg zu seinem ehemaligen Arbeitsplatz machen. Und vielleicht hat der Exbesetzer ein Transparent im Gepäck, das er ans regennasse Werkstor hängt: „Das Werk ist tot, die Alcateler leben.“ Die Hoffnung stirbt als Letztes.

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