piwik no script img

Mitleid heischen, bis das Herze bricht

Beziehungsloses Sammelsurium der Gestrandeten, umformatiert zur Riesentalkshow: Hysterische Klageweiber und kantige Pragmatiker in Kriegenburgs „Nachtasyl“-Inszenierung am Thalia-Theater  ■ Von Petra Schellen

Also, hier kann, hier darf jeder seine Geschichte erzählen. Ob alt oder jung, verrückt oder nicht, Wessi oder Ossi – schon aus Langeweile. Denn es könnte sein, dass es der Vorhof zur Hölle ist, das Lazarett, das Andreas Kriegenburg für seine Nachtasyl-Inszenierung, die die Thalia-Spielzeit eröffnete, hat bauen lassen (Bühne: Robert Ebeling). Und wenn man sich sowieso nie wiedersieht, ist es ja auch egal, ob man seine Seele entblößt.

Zu Marionetten sind die von Kriegenburg nachgezeichneten Gorki-Figuren geronnen, nicht nur, als sie wie ein Relikt des griechischen Chors lakenwedelnde Choreografien veranstalten, sondern auch, als sie loslegen mit ihren Geschichten: Ein übers andere Mal im Sterben liegt zum Beispiel Anna (Victoria Trauttmannsdorff), die mal hüstelt, mal singt, ihr Sterben auf Bitte der Umsitzenden gern auch noch ein Weilchen zurückstellt, weil da vorn gerade Interessanteres passiert, das man nicht verpassen möchte.

Dann hört man szenenlang nichts von ihr – bis sie sich an den ins charentonartige Typenlaboratorium eingedrungenen Luka (Markwart Müller-Elmau) schmiegt, damit er ihr das Jenseits schmackhaft macht. Aber human sterben möchte die charmant Behutete schon, die sich für den besonderen Anlass adrett auf der Bettkante platziert und Satin (Clemens Sienknecht) um einen klavierenen Trauermarsch bittet. Der wiederum kann an anderer Stelle jählings zum Trauerspiel mutieren, als der hager-philosophenschwätzerische Satin den Luka am spucketriefenden „Mund-Klavierspiel“ hindern will.

Sicher auf den ersten Blick bloß ein Slapstick, die Hysterie des Klavierbesessenen, aber zugleich ein „im Nebensatz“ präsentiertes Beispiel für bis dato nie gekannte Hysterien, die aufbrechen können, sobald irgendjemand aus Versehen an das falsche Knöpfchen des emotionalen Schaltkreises kommt.

Überhaupt scheint es die eigentliche Stärke Kriegenburgs zu sein, en passant Essenzielles über seine Figuren mitzuteilen: Zum munch-artig Eifersüchtigen, winzig vor Wut, wird an anderer Stelle der Nachtasyl-Wirt Kostylew (Hans Kremer), der soeben den Mordplänen seiner Frau Wassilissa (Anna Steffens) gelauscht hat und dem fast sämtlicher Lebenssaft aus dem Körper dünstet – Sekunden, bevor er sich zum Wuttier aufbläst.

Nolde-artig grotesk angelegt sind die Typen bei Kriegenburg, lächerlich die meisten, aber auch das nicht ungebrochen – ein weiteres Spiel, das Kriegenburg gern spielt: Da ist zum Beispiel Fritzi Haberlandt als Natascha, eine Berliner Rotzgöre, die diese Brechung ad absurdum treibt: „Ich glaube dir kein Wort“, sagt sie zum schlitzohrigen Pilger Luka – und ist doch die einzige, die dem Permanentlügner gewachsen ist. Die ihn nachäfft, sich mit den Worten „es ist besser so“ mit der Theatralik eines westbürgerlich-ratiogesteuerten Klageweibs über die tote Anna wirft und Phrasendrescherei einschließlich Psycho-Gequatsche persifliert.

Sie ist es auch, die über ihre durch Luka „missbrauchten Gefühle“ heult, um sofort danach cool zu fragen, ob er ihr nicht auch mal einen Vorwurf machen will, damit im Spiel wieder Gleichstand herrscht. Westliche, pseudo-verständnisvolle Kommunikationsmuster und ostdeutsch-kantiger Pragmatismus prallen in den Natascha-Luka-Dialogen aufeinander, einem Refrain, den Kriegenburg zum Orginaltext hinzugefügt hat.

Verlorene Lebensträume schleppen alle Nachtasyl-Bewohner mit sich herum – und genau deshalb ist keiner bereit, auch nur einen Funken Mitleids abzutreten. Ein Sammelsurium beziehungsunfähiger Individuen hat Kriegenburg hier zusammengestellt, angeordnet auf einer teils ansteigenden Bühne, deren Beleuchtung der eines Chirico-Bildes gleicht. Auf manche Szene hätte man allerdings leicht verzichten können, ohne dass das Stück dadurch an Penetranz eingebüßt hätte – denn letztlich ist jede dieser Anekdoten auch für die Mit-Leidenden belanglos: Lakonisch, fast opportunistisch mischen sich die Umstehenden dann und wann in den Monolog etwa Bubnows (Norman Hacker) ein, weben auch ihre Sätze zum Dialog ineinander – aber man hätte aus den Gesprächsfetzen auch einen anderen Teppich weben können. Denn im Grunde bleibt die Bühne ein Riesenbaukasten mit verschieden bunten Klötzchen, die auch in anderer Konstellation hätten aufgestellt werden können.

Ein Panorama der Einsamen, ein Riesentalkshow mit Musikeinlagen ist hier entstanden – ein in seiner Gleichgültigkeit aalglattes Forum für allerlei Schauergeschichten, an denen das Publikum gern teilnehmen kann: „Hat sonst noch jemand eine schreckliche Geschichte“ schreit Natascha, als sei sie auch die Lamenti ihrer Mitbewohner längst leid, die Luka, eine Mischung aus Rodins Balzac-Figur, dem Geizigen und Mephisto, aus ihnen rausgelockt hat. Ein Stichwortgeber und Manipulator ist er, ein Talkmaster und Moderator, der mal ein bisschen in einem Reagenzglas herumgerührt, dabei ein paar Tote erzeugt hat und sich, frankensteingleich, zurückzieht, als es dampft und kracht. Weg aus dem elendigen cercle vicieux.

Weitere Vorstellungen: 25.+ 28., 9., 1. + 2. 10., jeweils 20 Uhr, Thalia-Theater

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen