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Gegen die Zombiewelten

Ein unpädagogischer Pädagoge feiert heute Geburtstag: Hartmut von Hentig wird75 Jahre alt. Er ist ein großer Anfänger, ein Lebemeister und Künstler der Ambivalenz

Denken ist wichtiger als Wissen, Beobachten nötiger als Einordnen, Lernen besser als Belehrtwerden

Die Götter der griechischen Sage erfüllten König Midas den Wunsch, dass sich alles, was er berührt, in Gold verwandelt. Der Goldsegen war Midas wichtiger als die Vielfalt, Einmaligkeit und Zerbrechlichkeit der Dinge, die nun unter seiner Hand ihre Eigenheit verloren. Hätte sich nicht ein Gott seiner erbarmt, König Midas wäre verhungert. Zur Mahnung verpasste der Retter dem Neunmalklugen Eselsohren. Die Geschichte von König Midas ist heute eine der aktuellsten. Nur werden Goldkinder jetzt nicht mit Eselohren, sondern mit Leidenschaftslosigkeit bestraft. Sie laufen wie Zombies herum. Und es gibt viele Arten des erfolgreichen Sterbens vor dem Tod. Der Soziologe Ulrich Beck sagte kürzlich: „Eigentlich leben wir doch alle in Zombieinstitutionen und denken in Zombiekategorien.“ Das sitzt.

Die Erziehungswissenschaft hielt diese Woche ihren Kongress in Göttingen ab. Das Reden über Bildung ist immer ein aufschlussreiches Selbstgespräch der Gesellschaft darüber, was sie ist und wie sie werden will. Es war auch ein Selbstgespräch über Zombiewelten.

„40 Prozent der Schüler können keine Mathematik. Sie scheitern bereits an simpler Arithmetik.“ Und noch größer sei der Anteil derer, die ihre Muttersprache nur unzureichend beherrschen. Die sind die Ergebnisse einer Diagnose über Schulen, besser über Schüler, die David Berliner von der Arizona State University den erstaunten Wissenschaftlern in Göttingen vortrug. Die Zahlen fand er in einer Studie aus dem Jahr 1927, damals von einem amerikanischen Industrieverband über US-Schüler veröffentlicht. Wann immer Berliner seine Stichprobe ansetzte, stets wurde Kindern und Jugendlichen bescheinigt, was sie alles nicht können. Ergebnis: Erwachsene erleben die nächste Generation immer als Anfang vom Ende. Berliner erschütterte auch den Glauben, dass die Schulleistungen die Zukunft einer Volkswirtschaft vorwegnehmen würden. Lernen findet überall statt und nicht unbedingt in der Schule. Wirkungsverhältnisse sind wieder mal viel komplexer, als Wissenschaftler denken. Auch sie verfahren häufig nicht anders als jener Betrunkene, der sein Schlüsselbund unter einer Straßenlaterne sucht. Auf die Frage, warum er denn ausgerechnet hier suche, antwortet er, weil es hier hell ist.

Die Schule, so zeigte der Kongress der Erziehungswissenschaftler, ist immer noch eine führende Zombieinstitution, auch wenn ihr dieses Geschäft immer schwerer fällt. Schüler verweigern sich, wenn sie gezielt mit Belehrung bestrahlt werden, eine Art Abwehr des mentalen Immunsystems. Im Übergang vom zweiten zum dritten Schuljahr, so berichtete die Regensburger Wissenschaftlerin Maria Fölling-Albers, beginnen sich Schülerinnen und Schüler innerlich von der Schulen abzuwenden. Sie klagen über Langeweile und üben sich im taktischen Umgang mit der Anstalt. Kein Wunder, fügt ihre Kollegin Renate Girmes von der Uni Magdeburg hinzu, die Schule umstelle die Kinder und Jugendlichen mit jeder Menge Antworten auf nie gestellte Fragen. Dass Schüler dennoch lernen, aber anders als die Schule lehrt, darüber wissen wir wenig, müssen die Erziehungswissenschaftler eingestehen.

Lernen, so brachte es Fritz Bohnsack aus Essen auf den Begriff, sollen in Schulkulturen immer die anderen. Die Lehrer verlangen es von den Schülern; die Lehrerausbildung verlangt es von den Lehrern; die Professoren machen Konzepte für die Lehrerausbildung – und diejenigen Professoren, die in den höchsten akademischen Adelsstand berufen werden, machen dann den Masterplan für eine Studienreform, aus der nie was wird.

Eine tröstliche Beobachtung ist da die Erosion der belehrenden Schule. Herkömmlicher Unterricht löst sich auf, in Chaos oder in eine neue Ordnung. Ähnliches wird viel deutlicher in Familien beobachtet. Die Autorität der Eltern wird durch Verhandlungskulturen zwischen Erwachsenen und Kindern abgelöst. Zögernd folgt die Schule. Ein Prozess, der in keiner am Reißbrett erfundenen Reformarchitektur in Gang gesetzt wurde. Lernprozesse von Institutionen sind von anderer Art als „Reformen“, die ohne Rücksicht auf die Individualität der jeweiligen Einrichtung von oben exekutiert werden. Es gibt Ähnlichkeit zwischen dem Belehren im Unterricht und dem Steuern der Systeme auf der einen Seite – und den verschlungenen Wegen des Lernens, sei es von Schülern oder von Institutionen, auf der anderen Seite. Lernen verläuft nach einer dialogischen Grammatik, die nur zwischen Individuen gelingt und zwischen Geklonten und Zombies nicht gelingen kann, denn was hätten die sich zu sagen?

Ein großer Anfänger, Hartmut von Hentig, dieser sehr unpädagogische Pädagoge, feiert heute seinen 75. Geburtstag. Er zeigt, was es heißt, auf die vermeintliche Sicherheit von Prothesen- und Zombiewelten zu verzichten. „Pädagogik ist ein König Midas“, schreibt er, „sie verwandelt alles, was sie anfasst, in totes Gold.“ Sie sei Ersatz und erziehe für den Ersatz. „Sie bleibt vor allem eine Veranstaltung der sich verwaltenden mehr als der sich entwickelnden Gesellschaft.“ Hentigs Pädagogik hingegen ist als Verhältnis zwischen Personen, zwischen Individuen, die man daran erkennt, das jedes auf andere Art unvollkommen ist. Das klingt zugleich unzeitgemäß konservativ und in einer subversiven Weise zukünftig. Seine Pädagogik sei, sagte er einmal in einem Interview, ein so hoch individueller Vorgang, dass man sie nur mit der Liebe vergleichen könne. Menschen kommen in ihrer Einmaligkeit und Besonderheit zusammen.

Hartmut von Hentig, Deutschlands einflussreichster Pädagoge, Schulkritiker und Gründer von Reformschulen, emeritierter Starprofessor der Pädagogik, hat nie Pädagogik studiert. Vielleicht hat ihm das ermöglicht, seine eigene Pädagogik zu erfinden. Er ist ein Künstler der Ambivalenz. Der Schriftsteller Adolf Muschg nennt ihn einen Lebemeister, einen großen Anfänger, der der fertigen Welt die Unsicherheit des Anfangens entgegensetzt, allerdings auf immer höherem Niveau, und somit zugleich alles andere ist als bloßer Anfänger. Selbst seine Theorien sind letztlich Ausdruck der Person, und sie wollen andere dazu herausfordern, ebenfalls Person zu sein.

„Das Wissen ist ein Wahn“, schreibt er, ohne zu bestreiten, dass auch diese geronnene Form des Denkens nötig ist. Aber wenn alles geronnen ist, wenn „die Flucht vor dem Denken ins Wissen“ gelingt, dann wird es langweilig, und Lust verwandelt sich in Gier. Nach dem Stoff im Unterricht oder dem von anderen Dealern. Denn: „Wir haben es allemal in der Schule und auch später zu viel mit Stoff und zu wenig mit den Instrumenten des Verstehens zu tun.“ Im Denken durchschreitet Hentig den Raum zwischen Gegensätzen. Ihre Pole auslotend erweitert er sein Terrain. Seinen Büchern gibt er Namen wie „Spielraum und Ernstfall“ oder „Systemzwang und Selbstbestimmung“ und „Magier oder Magister“. Er oszilliert zwischen „Ordnung und Unordnung“. Aus Polaritäten lädt er sein Spannungsfeld auf, nimmt Chaos in Kauf, um dann immer wieder neue Ordnungen zu konstruieren. Sein Denken hinterlässt „aufgeräumte Erfahrung“.

Die Schule umstellt die Kinder und Jugendlichen mit Antworten auf nie gestellte Fragen

Er entdeckte wie kein anderer Pädagoge die Kunst der Balance und ihr Geheimnis, das tänzerische Beweglichkeit verleiht. Denn wer balanciert, der muss seinen Blick auf den Horizont richten, wer auf seine Füße schaut, der stolpert. Vorsichtig, Schritt für Schritt zu gehen, mit dem Blick zum Horizont das Gleichgewicht halten, diese Spannung lässt sich nur in der Kombination aus Konzentration und spielerischer Leichtigkeit aushalten. „Die Sprache räumt die Erfahrung auf und hält die auseinanderfallenden Phänomene zusammen“, schreibt Hartmut von Hentig. Die Sprache, nicht die Lehrsätze! Seine Sprache ist für ihn der Schlüssel zur Dechiffrierung der Welt. So sehr er komplette Theorien und geschlossene Systeme ablehnt, so sehr vertraut er doch gewissen Prinzipien, dass z.B. Denken wichtiger ist als Wissen, Beobachten wichtiger als Einordnen, Lernen besser als Belehrtwerden, und vor allem: Man muss sich für all das Zeit lassen.

Für Hartmut von Hentig ist Bildung die Kunst, sich selbst zu erfinden, eine Leistung des Individuums, das versteht, seinen Mangel in Stärken zu verwandeln. Das „schwache“ Individuum ist immer ein gemeinschaftsbedürftiges, es ist kein gepanzerter Autist, der so tut, als sei er schon angezogen auf die Welt gekommen. Denn nur aus dieser Schwäche ergibt sich die einmalige menschliche Entwicklungsbedürftig- und Fähigkeit. „Die Schwäche ist eine Funktion der Stärke.“ Dazu wird eine freundliche und fehlertolerante Umgebung gebraucht. Aber Schulen, die Lebens- und Erfahrungsräume sind, „die gibt es eigentlich noch gar nicht“, sagt Hartmut von Hentig. Dass er von ihnen ein paar noch erlebt, wünschen wir ihm und uns.

REINHARD KAHL

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