: Rebellion auf Plateauschuhen
Pubertätsdrama und Kulturschock-Krimi: „Swetlana“ von Tamara Staudt, der erste Spielfilm über die Volksgruppe der Russlanddeutschen ist jetzt im fsk-Kino zu sehen
Die Fischers sind die Ersten, die das Flüchtlingswohnheim am Rande Duisburgs verlassen können, um in der Innenstadt eine kleine Wohnung zu beziehen. Über einem Massagesalon namens „Mr. Hot“ (Relax & Massagen) und direkt gegenüber des von Marokkanern betriebenen „Quad-Daara“-Supermarkts gelegen, stellt dieses Appartment zwar nicht das Ziel aller Wünsche dar, wohl aber einen ersten, wichtigen Schritt in Richtung Wohlstand. Papa Fischer verkörpert alle denkbaren deutschen Tugenden, er ist fleißig, pünktlich, sauber, usw., hat aber ein entscheidendes Problem: Er wird nicht als Deutscher akzeptiert. So wie er in Russland als „Faschist“ denunziert wurde, trägt er nun das abfällige Etikett „Russki“.
Im Gegensatz zu ihm glaubt seine 16-jährige Tochter Swetlana nicht an die allmähliche Integration ins bundesdeutsche Gemeinwesen. Immer wieder zieht es sie zu den noch im Heim lebenden Landsleuten, vor allem in den kurz als „Keller“ bezeichneten Treffpunkt der Jugendlichen. Dem schönen Artur nämlich gehört noch immer ihr Herz. Artur gibt sich cool, scheut die Wege zum Amt, liebäugelt stattdessen lieber mit den undurchsichtigen Machenschaften seines Freundes Roman.
Und Roman wiederum ist Inbegriff all dessen, was gewöhnlich mit dem Schlagwort „Russenmafia“ assoziiert wird, also Schieberei, Autodiebstahl, Schutzgelderpressung und manches mehr. Ein Revolver liegt natürlich stets im Handschuhfach. Das Spannungsfeld zwischen Elternhaus und Schule einerseits, Artur und seinem Umfeld andererseits, treibt in Tamara Staudts 1999 fertig gestelltem Film „Swetlana“ unweigerlich auf eine Katastrophe zu.
Den zwischen 1773 und 1786 von Katharina II. nach Russland geholten Deutschen war nur eine historisch kurze Phase des Aufstiegs beschieden, ihre Siedlungsgebiete an der Wolga bewirtschafteten sie vorbildlich. Die Oktoberrevolution stufte sie als Schädlinge ein (was Tausende Tote zur Folge hatte), gestand ihnen jedoch schon 1921 eine eigene, autonome Sowjetrepublik zu. Doch die Selbstbestimmung dauerte nur kurz an: 1941 wurden die Russlanddeutschen von Hitler gegen ihren Willen als „5. Kolonne“ eingeplant, von Stalin dafür umgehend bestraft und hinter den Ural deportiert; was wiederum mit zahllosen Opfern verbunden war. So mündete der reichlich zweihundert Jahre zurückliegende Versuch einer Ostkolonialisierung für die vorrangig aus Schwaben, Württemberg, der Pfalz und Hessen stammenden Deutschen in eine einzige Leidensgeschichte der Heimatlosigkeit, die noch lange nicht ihr Ende gefunden hat.
Bislang lag dieses an dramatischen Verwicklungen so reiche Material völlig brach – fortgesetztes Resultat einer linksintellektuellen Scheu, die hinter jedem Stoff zum Vertriebenenkomplex sogleich die Revanchistenkeule wittert. Tamara Staudt traut sich nun, dieses Tabu auf äußerst leise, fast beiläufige Weise zu brechen. Sie begibt sich mitten hinein in einen auf den ersten Blick wenig attraktiven Alltag, fördert dabei verblüffend vielschichtige Bilder zutage.
Wenn Familie Fischer in der Wohnküche missmutig in ihren Pelmenis stochert und dazu der Privatfunk dudelt oder Swetlanas Mutter einfach nicht begreifen will, warum die neuerdings plateuschuhbewehrte Tochter nicht mehr an den schönen, rüschenbesetzten Sommerkleidern hängt, die in der Sowjetunion doch so beliebt waren, dann öffnen sich Türen zu vielen aufregenden, noch zu erzählenden Geschichten. Es blitzt sogar etwas auf von der unerklärlichen Leichtigkeit, mit der unsere französischen Nachbarn leicht übersehbare Banalitäten in großes Kino verwandeln. Gern verzeiht man „Swetlana“ deshalb einige dramaturgische Hänger, sieht auch über das allzu harmonisierende Ende hinweg.
Tamara Staudt hat ein formal völlig schnörkelloses Debüt vorgelegt, das gleichzeitig Pubertätsdrama, Kulturschock-Krimi und Liebesgeschichte ist. Für einen Erstlingsfilm ist das eine ganze Menge. CLAUS LÖSER
„Swetlana“. Regie: Tamara Staudt. Mit Marina Podlich, Denis Burgazliev, Abdelwahab Achouri u. a. Deutschland 1999, 90 Minuten; im fsk-Kino, Oranienplatz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen