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Rasender Volkswahn

von THOMAS EBERMANN

Dass „Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn“ die meistgerufene Parole im Prozess der Wiedervereinigung war, hat gute Gründe. Tatsächlich wurden die Maßstäbe dafür verschoben, was man so äußern kann, ohne von seiner Umwelt den Ratschlag zur Einnahme eines fiebersenkenden Mittels zu erhalten.

Ich meine nicht nur die berauschten Demonstranten unterm Brandenburger Tor oder in Leipzig, sondern auch jene, die den Ruf des ebenso besonnenen wie kritischen Intellektuellen genossen. Als typische Exemplare dürfen die Psychotherapeuten Maaz (Ost) und Möller (West) gelten, die aus ihrem Seelenleben keine Mördergrube zu machen glaubten, als sie einander beichteten: „Wie viele damals, habe auch ich während der Ereignisse im Herbst 1989 fassungslos und heulend vor dem Fernseher gesessen. Ich habe es kaum fassen können, wie physisch, wie physiologisch, wie körperlich dieses Erleben der Vereinigung bei mir“ war, „und in mir ist auch wirklich etwas geheilt. Es muss etwas mit dem Gefühl zu tun haben, jetzt einer ganzen Nation anzugehören“ (Möller). Der Gesprächspartner sucht und findet die Steigerung: „Die Bilder von damals lösen bei mir noch heute Tränen und Schluchzen aus. Tief im Innersten muss mich diese Grenze verletzt haben.“ (Psychologie heute, August 1991).

Dass der Mensch leidet, bewusst oder unbewusst, wenn das, was er für „ein Volk“ hält, auf zwei, drei oder vier Staaten verteilt lebt, dass ein solcher Zustand seiner Natur widerstrebt, also nur vorübergehend ertragbar ist, hatte schon Willy Brandt in die biologistische Formel vom Zusammenwachsen des Zusammengehörigen gekleidet.

Im Umkehrschluss gilt als ähnliches Unglück, als vergleichbare Verletzung anthropologischer Konstanten, wenn zwei, drei oder vier „Völker“ in einem Staat untergebracht sind. Als „Beweis“ dieser wahnhaften, von allen materiellen Lebensbedingungen und individuellen Rechten abstrahierenden Ideen galt die deutsche Wiedervereinigung, aber auch der Zerfall der Sowjetunion, die Teilung der Tschechoslowakei und die Betrachtung Jugoslawiens als Völkergefängnis, als „künstliches Produkt“ ohne „nationale oder nationalstaatliche Homogenität“ (Unionspolitiker Rupert Scholz).

So konnte sich Deutschland als Propagandist und Beschützer des völkischen Prinzips, welches an der Wiege fast aller neu gebildeten Staaten stand, einen Namen machen – und gleichzeitig das Ideal der Homogenität der nationalen „Schicksalsgemeinschaft“ aufprägen. Wie erheblich dieses Konstrukt den latenten Rassismus scharf machen, entfesseln musste, war zur Zeit der Wiedervereinigung keine theoretische Ableitung mehr, sondern eskalierende empirische Wirklichkeit, die zielstrebig auf die Abschaffung des Asylrechts, auf die Drangsalierung, Verletzung und Ermordung ausländisch Aussehender zusteuerte.

Wer die deutsche Vereinigung positiv bilanziert, zeigt nur seine Gleichgültigkeit denen gegenüber, deren begründete Angst sie das Wagnis jeden Spaziergangs abzuwägen zwingt, was laut Spiegel einen „Schatten auf die Lust an der Normalität wirft“, weshalb die Lust erst gänzlich ungetrübt wäre, wenn sich Minister Günther Becksteins Forderung erfüllte: „Auch der Ausländer, der vielleicht morgen abgeschoben wird, soll sich heute noch auf unseren Straßen sicher fühlen.“

Ob dieses zynische Ideal aller Freunde von Zivilgesellschaft und Rechtsstaat sich verwirklichen lassen wird, kann bezweifelt werden, denn eine Portion Selbsttätigkeit wird sich kaum vermeiden lassen, solange Befund und Urteil ausfallen, wie in der jüngsten Shell-Jugendstudie: „Die große Mehrheit der deutschen Jugend teilt die Ansicht, dass zu viele Ausländer bei uns leben. Diese Einschätzung hat nicht von vornherein etwas mit Ausländerfeindlichkeit zu tun.“ Was womit nichts zu tun hat, darüber herrscht in Deutschland eine gewaltige Bescheidwisserei.

Das ist auch der Grund, warum zehn Jahre alte Studien, die den Rechtsradikalismus von Republikanern und DVU nachweisen sollten, unbrauchbar wurden, bilden die damaligen Zitate doch heute das gängige Vokabular von Schily bis Schröder.

Die meistbenutzten Vokabeln zur apologetischen Kennzeichnung der Berliner Republik sind Selbstbewusstsein und Normalität, also die Überwindung des Anormalen und der Selbstverleugnung. Auf die Zeit der begrenzten nationalen Souveränität fällt so fast automatisch ein leicht spöttischer Blick, eine bisweilen ungerechte Verachtung derer, die das Kostüm des westlichen Musterschülers trugen, weil das die Voraussetzung der heute erreichten Resultate war.

Im taz-Sonderheft „Deutsche Einheit“ las sich das vor rund zehn Jahren so: Erst wenn die „rückwärtsgewandten Beschwörungsformeln, die deutsche Geschichte einschließlich Auschwitz zum Fetisch einfrieren, abgelöst werden“, könnten „die Chancen des Augenblicks wahrgenommen werden“, die der „Abschied vom faden (!) kleinen Staat Bundesrepublik“ böte. Das Sonderheft des Spiegel, welches „Das deutsche Wunder“ betitelt ist, ist der Fadheit nicht minder überdrüssig und beschuldigt Helmut Kohl, nie mehr als der „Biedermann in einer idyllischen Republik“ gewesen zu sein, ein echter Langweiler „verlässlich und unbedrohlich nach außen, behaglich und banal nach innen“.

Wie gesagt, solche Anwürfe sind ungerecht, wenn man an Kohls Kampf für „patriotische Wertorientierung“, seine Demonstration „einer neuen Unbefangenheit“, seine Gesten des Selbstbewusstseins, manifestiert in Bitburg, sein gewagtes Treffen mit Kurt Waldheim oder ein geflügeltes Wort von der „Gnade der späten Geburt“ denkt, das ihm den erschrockenen Knesset-Abgeordneten zu erläutern gebot: „Es ist wie in der eigenen Familie; ob man mit all dem einverstanden ist, was die, die vor einem waren, getan haben oder nicht, man kann sich nicht lossagen. Man trägt das Blut (!) der Familie, die Erbanlage in sich.“

Wer all das fad, banal, idyllisch und unbedrohlich fand, verriet in seiner Ungerechtigkeit allerdings einiges über die Erwartungen, die an wirkliche Normalität und echtes Selbstbewusstein geknüpft waren. Eben das, was die Welt, die auf diesem Gebiet eigentlich nicht als zimperlich gelten muss, den „burschikosen Hauruckstil, der sich seit der Machtübernahme Gerhard Schröders in deutschen Stellungnahmen gegenüber dem Ausland eingeschlichen hat“, nannte.

Natürlich findet die von der schleimigen Umsicht eines Weizsäcker so gequälte deutsche Seele Trost im derben Wort, wie der emphatische Beifall der Elite aus Anlass der Walser-Rede beweist. Man macht sich Luft, die insgeheim schon lange verfluchte Rücksichtnahme auf Leute wie Ignatz Bubis hat ein Ende.

Aber immer nur Worte? Immer nur der Rausch der Lektüre der germanophilen Vorkämpfer Ernst Jünger, Antje Vollmer, Botho Strauß; stets nur der orkanartige Applaus am Ende des Parsifal in Bayreuth, aus Anlass der Rettung des heiligen Erbguts der Herrenrasse? – Zu wenig!

Den wirklichen Beweis, dass die eingeschränkte der vollen Souveränität gewichen ist, erbringt nun einmal der Krieg. Er macht Deutschland erwachsen. Alles Gerede rund ums Jahr 1990, dass ein mächtiges vereintes Deutschland doch zur Abwechslung mal den Wohlstand und den Frieden in der Welt mehren könnte, dass man deshalb die Einheit nicht ablehnen, sondern gestalten müsse, wäre grausam blamiert. Wäre! Wenn die Verkünder dieser Botschaften sie ernst genommen, also nicht nur als Argument des Mitmachens, des Nichtzuspätkommens, um der Bestrafung durch das Leben zu entgehen, benutzt hätten.

Von der versprochenen „Friedensdividende“ spricht heute niemand mehr. Wie um Lichtjahre entfernt klingt heute Kohls erste Regierungserklärung, in der jeder militärische Einsatz außerhalb des Nato-Gebiets ebenso prinzipiell wie für alle Zeit ausgeschlossen wurde. Absolut nicht diskussionsfähig ist, wer glaubt, sich auf ein Argument Volker Rühes stützen zu können, das, fünf Jahre alt, ungefähr so unzeitgemäß ist wie die Kritik der Markwirtschaft durch Marx: „Wo die deutsche Wehrmacht gewütet hat, darf kein deutscher Soldat mehr seine Stiefel hinsetzen.“

Man könnte einiges Material zusammentragen zum Beweis, die sich oppositionell gebende kritische Intelligenz habe manchmal den zwar raschen, aber geordneten Weg in die deutsche Kriegsfähigkeit (wie Rühe ihn verkörperte) ungeduldig beschleunigen wollen. Die Deutschen, schrieb 1991 Detlef Claussen in der Zeitschrift Links mit Blick auf das ihm mangelhaft scheinende Engagement gegen den Irak, kämen „gar nicht umhin, auch militärisch die ihrer ökonomischen und politischen Bedeutung entsprechenden Beiträge zu leisten. Das gerade erfordert die Lehre aus der deutschen Vergangenheit.“ Das Argument machte Karriere, als es um die Bombardierung der Serben ging.

Die deutsche Kriegsfähigkeit (nur begrenzt durch die faktische militärische Schlagkraft, aber daran wird im europäischen Maßstab gearbeitet) hat als logisches Resultat der Wiedervereinigung nebenbei den Vorteil, dass sich in ihrer Bejahung die oft aufgeblasenen Differenzen zwischen den Zivilgesellschaftsfreunden und den Germanophilen ziemlich verflüchtigen. Es führen eben verschiedene Weg sowohl nach Rom als auch nach Belgrad.

P. S. Die rund 20.000 Marginalisierten, die am 12. Mai 1990 in Frankfurt unter der Parole „Nie wieder Deutschland“ demonstrierten“, hatten (nicht im Detail, aber im Vergleich zu allen anderen Positionen) zutreffend prognostiziert. Dass man davon nichts hat, gebe ich freimütig zu.

Außerdem hat keiner von uns gewusst, dass ein deutscher Außenminister nach Ungarn reisen, das Dorf seiner Vorfahren besuchen, nach seinen Wurzeln graben und geadelt als „größter Sohn von Wurdigess“ heimkehren würde. – Die Realität übertrifft halt die Fantasie.

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