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Ost-Süd-Ost im Minibus

Auf Reisen quer durch Osteuropa oder Wenn die Straße zum Marktplatz wird. Fragen und Beobachtungen jenseits des Europcar-Universums

von ULRIKE OTTINGER

Was geschieht, wenn wir versuchen, bei einer Reise das, was wir auf den Straßen erleben, an ihren Säumen beobachten, zu sammeln? Ist es möglich, daraus ein Bild des Ganzen zu erhalten? Ist es möglich, zwischen diesen Bruchstücken Verbindungen zu schaffen oder Teile zu ergänzen? Diese Reise führt über die alten Verbindungswege zwischen den Metropolen Südosteuropas, von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt bis Odessa und Istanbul. Die bernsteinfarbenen Steinpilze, gleich nach der polnischen Grenze, sorgfältig ausgelegt auf Zeitungspapier, gestapelt, aufgefädelt oder in Plastiktüten an einen Zweig gehängt, sodass er sich unter der Last in die schnurgerade Straße biegt, Aufmerksamkeit erheischend . . . Mit erwartungsvollen Gesichtern blicken die Verkäufer den nicht gerade häufig vorbeifahrenden Autos entgegen, deuten mit der Hand auf ihre schönen großen Pilze oder schieben sie auf der Zeitungsunterlage noch etwas weiter nach vorn. Alte Frauen, ein Mann auf einen Stock gestützt, Roma-Familien mit und ohne Auto, Bauern mit Pferdekarren, junge Mädchen allein oder in kleinen Gruppen sitzen am Straßenrand. Wären sie allein, würde man sie im Vorbeifahren für Picknickgruppen halten. Aber es sind hunderte, die an dieser Trennlinie sitzen, die die Straße zwischen den Eichenwäldern zieht. Wo sind ihre Dörfer? Haben sie keine Arbeit? Ist es für sie einträglicher, für einige wenige D-Mark die langen Fußwege zu möglichen Käufern auf sich zu nehmen? Oder sind sie so arm, dass ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als die Hoffnung auf ein anhaltendes Auto?

Eine schmale Straße, übersät von aufgeplatzten Teerbeulen, führt durch die kleinen rumänischen Straßendörfer bis Timisoara. Über viele Kilometer zeigt sich uns immer wieder das gleiche Bild: vor den meist niedrigen Häusern ein grüner Anger, der ohne Abgrenzung bis zur Straße reicht. Hier tummeln sich viele weiße Gänse frei im Gras. Auch einige Enten, Hühner, Truthähne. Nur die Küken sind unter einem Drahtnetz wie unter einer riesigen Käsehaube sicher verstaut. Vor den Häusern stehen Pferdewagen, werden be- oder entladen. Überhaupt scheinen sich der Verkehr und Transport zwischen den Dörfern auf Pferde-, manchmal auch Eselskarren abzuspielen. Wer keinen Pferdekarren zur Verfügung hat, ist aufs Trampen angewiesen. So stehen am Straßenrand immer wieder Menschen mit ihren Lasten, vor allem alte Frauen, die auf eine Transportmöglichkeit warten. In Rumänien gibt es zwar viele Tankstellen, aber das Benzin ist für die Menschen dort kaum bezahlbar.

Außerhalb der Dörfer sieht man häufig Männer oder Frauen, die ihr Pferd oder ihre Kuh auf dem schmalen Grasstück zwischen Straßengraben und Straßenrand weiden. Die vielen, offenbar seit Jahren unbestellten Felder, auf denen Buschwerk, Gräser und Kräuter wachsen, werden dazu nicht genutzt, obwohl sie dringend benötigt würden. Wem gehören diese Felder? Warum arbeitet niemand auf ihnen? Sind sie altes Kolchoseneigentum oder hat die Reprivatisierung neue, unklare Besitzverhältnisse hervorgebracht? Antworten dazu sind widersprüchlich. Auf den bearbeiteten Feldern sind in Reihen sensende, hackende Menschen zu sehen. Die Landarbeit ist hier Handarbeit. Die Heuernte wird auf riesigen Pferdewagen eingebracht. Äpfel, Tomaten, Melonen und Pflaumen aus den Gärten hinter dem Haus werden den Vorbeifahrenden angeboten. Die Frauen häkeln dabei an Spitzendecken, die, auf langen Leinen hängend oder über Zäune gelegt, ebenfalls auf Käufer warten. Als ein gewaltiges Gewitter und heftiger Regen einsetzen, der die Straßen in Bäche verwandelt, flüchten sich die Frauen in kleine Strohhütten, die sie am Straßenrand errichtet haben. Andere laufen mit einer Plastikplane unter die Bäume, wo bereits die Pferdewagen mit ihren stoischen Tieren und nicht weniger stoischen Besitzern Schutz gesucht haben.

Die Fähre von Odessos nach Odessa hat nicht genügend Ladung. Die Abreise verschiebt sich auf unbestimmte vier, fünf Tage. Odessos ist der alte griechische Name von Varna, der bulgarischen Hafenstadt am Schwarzen Meer. Bis vor kurzem waren die Kapitäne und die Besatzung der Fischerboote fast ausschließlich Griechen. Sie hießen Konstaninides und Anastasios. Heute sind sie von Türken abgelöst. Auf den Küstenstraßen fahren wir vorbei an desolaten Tourismuskomplexen und abbruchreifen Industrieanlagen in enger Nachbarschaft von Müllkippen. Die Küstenstraße scheint ein beliebter Ort zu sein, um sich aller überflüssigen Dinge zu entledigen.

In Baltschik, dem griechischen Dionysopolis, vermittelt uns eine energische Dame mit imposanter Nase Zimmer in einem Neubau auf dem Hügel über dem Meer. Er wurde in zwölfjähriger Eigenarbeit von einem Ehepaar erbaut, dem man die Anstrengungen ansieht. Er ist noch nicht ganz fertig. Der Hügel erweist sich bei genauer Betrachtung als türkischer Friedhof, der jetzt als Müllkippe genutzt wird. Tagsüber suchen die Roma- oder Türkenkinder in den Abfällen nach Verwertbarem oder spielen mit den Deckeln von Gläsern und Dosen Frisbee. Heute früh hat ein alter Mann vor einem Grabstein gebetet.

Die Türken sind nach über fünfhundertjähriger Herrschaft in Bulgarien zu einer armen und nicht sonderlich geliebten Minorität geworden. Sie leben in kleinen Lehmbauten an den Hängen über uns in unmittelbarer Nachbarschaft des Neubaus. Die Fernstraße durchschneidet ihr Viertel. In ihren winzigen Vorhöfen halten sie einige Hühner oder ein bis zwei Schafe und manche auch einen Esel. Die Musik, die sie spielen, hat Klezmeranklänge und orientalische Rhythmik. Ein Familientreffen endet mit einem Tobsuchtsanfall des Hausherrn, in dessen Verlauf er sein Fenster samt Rahmen aus dem Haus bricht. Die Frauen kehren den Schaden zusammen und werfen die zu Bruch gegangenen Stücke den Hang zum Neubau hinunter. Unsere bulgarischen Gastgeber sind unzufrieden mit ihrer Nachbarschaft. Als sie das Grundstück noch zu sozialistischer Zeit erwarben, hat man ihnen versprochen, das Viertel werde verschwinden – aber jetzt?

In den Zwanzigerjahren ließ sich die rumänische Königin Marie ein Schloss am Meer mit botanischem Garten errichten. Seither ist Baltschik ein beliebter Badeort und wird heute vor allem von Russen und Ukrainern und natürlich von Bulgaren besucht. Die Strandpromenade wurde aus groben, schief liegenden Betonplatten gefertigt. Zusammen mit den aufgetürmten Betonbruchstücken als Wellenbrecher verströmen sie den Charme einer Panzersperre. Ein kleiner Strandwagen, gestiftet von Coca Cola und mit dauerhaft leuchtender Aufschrift bemalt, fährt mit Touristen besetzt auf und ab. Weitere grelle Leuchtzeichen vor den maroden Bauten sind Badetücher mit Motiven von Mickey Mouse bis zur Erotik-Madonna. Ein rührend kleines Kinderkarussell mit sechs Pferdchen noch aus der Ära des Schlosses dreht seine Runden. Gegenüber hat die Konkurrenz Minipolizeiautos und -motorräder für die kleinen Kunden aufgebaut. Die Fischverkäuferinnen wedeln mit Papierstreifen, die an einem Stöckchen befestigt sind, die Fliegen von den Kaulköpfen und Rochen.

Der Schießbudenbesitzer hält vorsichtshalber den Gewehrlauf mit den Hand fest – weit von sich weg – und gibt ihn erst frei, wenn die schießwütigen Jungen aus Sofia oder Kiew ihr Ziel unter den kleinen Tierfiguren ausgewählt und fest im Visier haben.

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