: Die Poesie der Macher
Kontrollfiktion: Das angestammte Reich des Pragmatikers, also des Machers als Politiker, ist tatsächlich weniger das Bewirken als das Fantasieren politischen Handelns. Niklas Luhmann beschreibt die Möglichkeiten der Politik von ihren Grenzen her
von NIELS WERBER
Gerhard Schröder gilt als „Macher“ und „Pragmatiker“. Beides meint ungefähr dasselbe: ein Politiker, der handelt und eingreift, schnell und unkompliziert statt zaudernd. Der „Macher“ ist das Gegenteil des „Bedenkenträgers“, jenes Typs, der sich Zeit zu Reflexion und Zweifel nimmt und daher im Reich der Pragmatiker geradezu als Witzfigur gilt. Pragmatikos heißt schon in der Antike der staatsmännisch Tüchtige, aber auch der, der „etwas ins Werk setzt“. Das hat er mit dem „Macher“ gemein, der griechisch „Poet“ genannt wird. Man könnte allein aus wortgeschichtlichen Gründen auf die Idee kommen, Schröder einen „Dichter der Macht“ zu nennen, aber er, der Pragmatikos von heute, ist auch aus sachlichen Gründen immer schon ein Poet, denn sein angestammtes Reich ist tatsächlich weniger das Bewirken als das Fantasieren politischen Handelns. Gerade die Haupteigenschaft des Machers, dass er umstandslos und pragmatisch etwas Wirkungsvolles bewirkt, ist eine politische Fiktion – dies ist zumindest eine der interessantesten Thesen von Niklas Luhmanns nachgelassenem Werk „Die Politik der Gesellschaft“.
Das genuin Poetische an der Poesie der Macher ist ihre Kontrollfiktion. Politiker setzen, wenn sie „pragmatisch“ entscheiden, immer zweierlei voraus: einen kausalen Zusammenhang und die Möglichkeit, auf diesen Zusammenhang mit einer politischen Entscheidung einzuwirken. Luhmann nennt als Beispiel den Zusammenhang von rechter Gewalt und Arbeitslosigkeit. Die Unterstellung lautet: „Arbeitslosigkeit führt zur Gewaltbereitschaft der Jugend, so dass, in Gegenrichtung gesehen, Vorsorge für Chancen auf dem Arbeitsmarkt die Gewaltbereitschaft Jugendlicher verringern wird.“
Ob dieser Zusammenhang von Jugendarbeitslosigkeit und Gewaltbereitschaft tatsächlich besteht, darf eher bezweifelt werden; dennoch konstruiert die Politik diese Kausalität, weil sie etwas tun will und auf dieser Grundlage handeln kann: nämlich Geldmittel bewilligen, die zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit dienen sollen. Auch hier bleibt unabsehbar, ob diese aufgewendeten Mittel ihr Ziel erreichen, denn Arbeitsplätze entstehen in der Wirtschaft allein aus ökonomischen Gründen, und wenn etwa die Anzahl von Lehrstellen zunehmen sollte, bleibt unklar, worauf dies zurückzuführen ist: auf ein Interesse der Betriebe an besser qualifizierten, jungen Arbeitnehmern, das auch ohne staatliche Mittel zu mehr Beschäftigung geführt hätte, oder allein auf die Subventionszahlungen.
Ob Betriebe ausgerechnet Rechtsradikale bevorzugt einstellen, bleibt fraglich; ob die sinkende Arbeitslosigkeit die politisch gewünschten Wirkungen zeitigt, kann kaum nachgewiesen werden, denn unendlich viele andere Faktoren könnten zu einem Rückgang der Gewalttaten führen: Die Statistiken könnten einfach weniger Akte rechter Übergriffe registrieren, da die Definition geändert wird; es könnten weniger Straftaten zur Anzeige geführt haben, weil die Opfer eingeschüchtert worden sind; oder die pubertierende Tätergruppe entdeckt andere, attraktivere Freizeitaktivitäten; oder womöglich schrecken sogar engagiertere Bürger, erhöhte Polizeipräsenz und härtere Urteile vom „Klatschen“ ab.
All diesen „Bedenken“ zum Trotz verknüpft die Politik Ursachen mit Wirkungen: mehr Arbeitslosigkeit – mehr Gewalt, weniger Arbeitslosigkeit – weniger Gewalt. Sie muss dies tun, um etwas „machen“ zu können und so ihren Wählern Handlungsfähigkeit vorzuführen. Und wenn die Folgen dieses Handelns in der Umwelt der Politik prinzipiell unübersehbar bleiben, bewirkt der Pragmatismus innerhalb des politischen Systems tatsächlich immer etwas, nämlich die steigende oder sinkende Bereitschaft, diese oder jene Partei zu wählen. Selbst für den Fall, dass in der Zukunft niemand mehr angeben mag, ob die Beschäftigungsprogramme auch nur einen einzigen Jugendlichen von seiner Gewalttätigkeit abgehalten haben, hat die Politik mit ihren Maßnahmen doch immer etwas für die Gegenwart erreicht: Sie hat „gute“ Politik gemacht – was sonst. Die verwendeten Kausalschemata „enthalten zugleich die Motive, die zu ihnen passen“. Der verknüpfte Zusammenhang enthält schon die Patentlösung. Denn wer kann schon ernsthaft dagegen sein, etwas gegen Rechtsradikalismus und Jugendarbeitslosigkeit zu tun?
Der Wähler hält die Kontrollfiktion der Macher längst für Realismus. Jeden Tag hört, sieht oder liest man es in den Nachrichten: diese oder jene Partei oder Regierung, dieses oder jenes Ministerium, diese oder jene Verwaltung werde nun die Atomreaktoren abschalten, um die Umwelt zu schützen, die Rechtschreibung reformieren, um die Bildung zu verbessern, die Steuern senken, um die Wirtschaft anzukurbeln, oder die Bundeswehr umrüsten, um den Weltfrieden zu sichern. Der Staat, so fasst André Brodocs zusammen, wurde „zum selbsternannten Adressaten aller gesellschaftlichen Probleme, die sich aber gerade als nichtpolitische Probleme, sondern als Probleme des Geldes, der Erziehung, Gesundheit etc. dem Zugriff des politischen Systems entziehen“. Man hat sich an die Allzuständigkeit der Politik für beliebige Probleme längst gewöhnt, und eine Folge dieser Gewöhnung mag sein, dass man auch anzunehmen bereit ist, „pragmatische“ Politik vermöge diese auch zu lösen. Immerhin gibt es ja entsprechende Ministerien – was spricht also gegen die Unterstellung, dass die Wirtschaftspolitik der Wirtschaft dient, die Arbeitsmarktpolitik dem Arbeitsmarkt oder die Umweltpolitik der Umwelt? Die Tatsache, dass etwa Wirtschaft und auch Natur eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, die von politischen Entscheidungen nicht determiniert werden? Dennoch verwendet die Politik „Skripts“, die „nach dem allgemeinen Muster ‚dies bewirkt das‘ formuliert werden.“ Diese Art der „Kausalzurechnung“ ist für politische Organisationen typisch, weil sie so bestimmte, beliebig ausgelöste Veränderungen in der Gesellschaft sich selbst als Erfolg zurechnen können.
Ist einmal ein Skript in den Massenmedien gut eingeführt, kommt an dem kausalen Zusammenhang zwischen der politischen Entscheidung und der Folge in der Umwelt der Politik kein Zweifel auf. Entweder treibt die Umweltpolitik die Stromindustrie in den Ruin oder sie verantwortet die atomare Verseuchung der Natur. In beiden Fällen glaubt man daran, die Politik „mache“ etwas mit kontrollierbaren Folgen in Natur und Gesellschaft. Der Staat hält sich für alles zuständig, und seine Bürger machen ihn für alles verantwortlich; man kann längst „nicht mehr zwischen staatlich politischen und gesellschaftlich unpolitischen Sachgebieten unterscheiden“, alle großen „Trennungen“ wie „Staat und Wirtschaft, Staat und Kultur, Staat und Bildung, Staat und Recht verlieren ihren Sinn“, wenn der Staat zum „Wirtschaftsstaat, Kulturstaat, Fürsorgestaat, Wohlfahrtsstaat, Versorgungsstaat“ geworden ist und die „Selbstorganisation der Gesellschaft“ übernommen hat. Carl Schmitt, den wir hier zitieren, hat 1931 diese schleichende Übernahme aller sozialen Leistungsbezirke als Wendung zum totalen Staat beschrieben. Luhmanns Politik der Gesellschaft wird von einem Ethos der Differenz getragen, der diese verloren geglaubten „Trennungen“ restituiert und vor neuerlichen Verschleifungen zwischen den funktional differenzierten Sozialsystemen warnt: „Wenn eine Kommunikationspraxis diesen Unterschied nicht beobachten, nicht beachten kann, kann sie nur Konfusion anrichten.“ Wenn Luhmann schreibt: „Alles in allem gleicht der Wohlfahrtsstaat dem Versuch, die Kühe aufzublasen, um mehr Milch zu bekommen“, dann lässt sich seine Anknüpfung an Schmitt kaum übersehen. Es entspräche nun einem beliebten Skript, darin Konservatismus zu sehen – eine Alternative dazu läge in der These, dass schon Schmitts Kritik berechtigt gewesen und noch heute aktuell ist.
Was Schmitt als Kontrolle der Gesellschaft durch den totalen Staat beschreibt, wird von Luhmann freilich als Kontrollfiktion gedeutet. Ihre Unterstellungen werden „nicht nur für die Darstellung der Motive und der in Aussicht gestellten Folgen von Entscheidungen“ gebraucht, „sondern auch, ja mehr noch, für das dazugehörige Klagen über Politik, für Wünsche und Appelle, die ja alle so formuliert werden müssen, als ob das, was gefordert wird, wirksam geschehen könne“. Daher vermitteln „sowohl die Regierenden als auch die Opposition“ nach „dem Muster ‚dies bewirkt das‘ “ einen Eindruck von Machbarkeit, so als könne die Politik die Folgen ihrer Entscheidungen, die sie in eine überaus komplexe Welt hinauslässt, tatsächlich kontrollieren. Aber die Politik kann nur entscheiden – ob dann die Jugend friedlicher oder die Umwelt besser geschützt wird, und was dies überhaupt bedeutet, hängt nicht allein von ihr ab, sondern von zahllosen Faktoren, die von dem verwendeten Skript ausgeblendet werden.
Man spürt hier deutlich den Spott über eine Politik, die sich von der systemtheoretischen Einsicht in die Funktionsdifferenzierung der Gesellschaft nicht beeindrucken lässt und so handelt, als wäre sie für alles zuständig. „Solange die Politik in den politischen Wahlen nach guten und schlechten Resultaten beurteilt wird, darf es nicht erstaunen, wenn man politische Techniken findet, die es ermöglichen, das unkontrollierbare (für die Politik mehr oder weniger zufällige) Entstehen guter und schlechter Resultate zu überleben.“
Rechtfertigung und Heuchelei sind politische Optimierungsstrategien, mit denen man im Code Gut/Schlecht kommuniziert, ohne das ausgeschlossene Dritte, die Realität, kontrollieren zu können. Wie bei den Hopi-Indianern der Regentanz, scheint das Reden von der Ankurbelung der Wirtschaft, Sicherung des Standorts Deutschland, Beschaffung von Arbeitsplätzen eine wichtige Funktion zu erfüllen; jedenfalls die, den Eindruck zu verbreiten, dass etwas getan und nicht einfach abgewartet wird, bis die Dinge sich von selber lösen, obwohl genau dies „die immer noch beste Lösung ist, an die man derzeit denken kann“. Aber mit Abwarten lassen sich keine Wahlen gewinnen, es kommt also darauf an, Ziele vorzugeben, deren Erreichen zu behaupten und die Verantwortung dafür zu reklamieren. Dafür braucht die Politik die Poesie der Macher.
Niklas Luhmann: „Die Politik der Gesellschaft“, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000, 445 Seiten, 48 DMAndré Brodocz, Gary S. Schaal: „Politische Theorien der Gegenwart. Eine Einführung“, Leske + Budrich, Opladen 1999, 364 Seiten, 48 DM
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