: Gutachten für mehr Menschlichkeit
Der Professor für Gerichtspsychiatrie Wilfried Rasch ist im Alter von 75 Jahren gestorben. Der langjährige Leiter des forensischen Instituts der FU hat dazu beigetragen, dass die Rechtssprechung in Sachen Schuldfähigkeit humaner geworden ist
von PLUTONIA PLARRE
Sofort, wenn er in einer Prozesspause aus dem Gerichtssaal trat, war er von Menschen umringt. Journalisten, Angehörige von Angeklagten und Opfern, Zuschauer von den Hinterbänken – mit Wilfried Rasch suchte und fand fast jeder das Gespräch. Viele Experten seines Wissens und seiner Stellung hätten es nicht nötig befunden, sich auf solche Gespräche einzulassen. Doch das Schöne an dem Professor für forenische Psychiatrie, wie die Gerichtspsychiatrie im Fachjargon heißt, war, dass er keinen Standesdünkel kannte.
Wilfried Rasch ist am 23. September im Alter von 75 Jahren in Südfrankreich gestorben, wo er zuletzt gelebt hat. An der Stätte seines früheren Wirkens, dem Institut für forenische Psychiatrie an der Freien Universität, findet heute eine Gedenkfeier für ihn statt. Rasch hat das Institut von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1993 geleitet und maßgeblich dazu beigetragen, dass es zu einer international anerkannten Einrichtung für Gerichtspsychiatrie geworden ist. Bescheiden, wie er war, würde es ihm überhaupt nicht gefallen, auf einen Sockel gestellt zu werden.
Fakt aber ist: Rasch, der die Schuldfähigkeit unzähliger angeklagter Straftäter begutachtet hat, war ein Meister seines Fach und hat als solcher Geschichte geschrieben. „Er hat einen großen Beitrag dazu geleistet, dass die Rechtssprechung im Bereich der Frage der Schuldfähigkeit humaner und liberaler geworden ist“, sagt der Vorsitzende der Berliner Strafverteidiger-Vereinigung, Rüdiger Portius.
Um Raschs Verdienste erfassen zu können, muss man weit zurückgehen. 1967 wurde der vierfache Kindermörder Jürgen Bartsch in Wuppertal zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Bei dem ersten Mord war Bartsch 15 Jahre alt, bei seinem Prozess war er 19. Das Urteil stützte sich auf das Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen, der den Angeklagten voll verantwortlich für seine Taten gemacht hatte.
Das Urteil im zweiten Prozess von 1971 lautete 10 Jahre Jugendstrafe und anschließende Einweisung in die geschlossene Psychiatrie, den so genannten Maßregelvollzug. Damit wurde Bartsch als krank eingestuft. Diesmal hieß der Gutachter Wilfried Rasch. Im Gegensatz zu den Anhängern der alten Schule vertrat Rasch, dass bei einer Beurteilung die Dynamik des Tatgeschehens und die Persönlichkeitsentwicklung des Beschuldigten im Vordergrund stehen müssen.
Ohne die Unterstützung von anderen fortschrittlichen Kräften wäre aber auch Rasch einsamer Rufer in der Wüste gebleiben. Mit der Reform des Strafvollzuges Ende der 70er-Jahre kehrte auch im Maßregelvollzug eine Wende ein. Bis dahin war die geschlossene Gerichtspsychiatrie kein Krankenhaus, sondern ein Abstellgleis für vermeintlich unlösbare Problemfälle. Statt behandelt zu werden, wurden die Menschen ausgegrenzt und weggesperrt. „Er hat bewiesen, dass man etwas erreichen kann, wenn man gegen Strom schwimmt“, sagt die Psychologin Renate Volbert.
Rasch war ein Vertreter des sozialtherapeutischen Ansatzes, der darauf abzielt, dass Straftäter soziale Verhaltensnormen lernen und wieder in die Gesellschaft integriert werden müssen. Auf seine Initiative hin wurde die Sozialtherapie sogar im Strafgesetzbuch verankert. Das Vorhaben ist jedoch auf halbem Wege stecken geblieben. Statt an einer externen sozialtherapeutischen Einrichtung gibt es Sozialtherapie nur innerhalb der Haftanstalten. Die Plätze sind sehr begrenzt. Für den großen Wurf fehlten Geld und politischer Wille.
Wen immer man zu Rasch befragt, stets fällt das Wort Menschlichkeit. Er habe die Angeklagten „nicht als Objekt,sondern als Mensch behandelt“ sagt der Gerichtssachverständige Werner Platz, der bei Rasch habilitiert hat. „Er hat ihnen das Gefühl vermittelt, sie als Mensch zu verstehen“.
Der Strafverteidiger Matthias Zieger rechnet Rasch hoch an, dass er nicht nur Gerichtsgutachter war, sondern stets auch Arzt. „Er hat sich immer Gedanken gemacht, wie es für den Patienten in seiner scheinbar ausweglosen Situation weitergehen kann.“ Anders als viele seiner Kollegen habe Rasch kein „Fachchinesisch“ gesprochen sagt Zieger. „Er trat den Menschen unvoreingenommen gegenüber und wurde verstanden, obwohl sie intellektuell nicht annähernd auf seinem Niveau waren“, bestätigt Portius.
Akzente gesetzt hat Rasch auch, als er 1975 – zusammen mit drei bestellten Sachverständigen – eine verheerende Wirkung der Isolationshaft bei den RAF-Gefangenen feststellte: „Durch Zusammenlegung einer Gruppe von 15 bis 20 Häftlingen würde ein soziales Feld angeboten, das ein erreichbares Maß an Interaktion erlaubt“, schrieb der Gerichtssachverständige dazu.
Auch in seinem letzen Lebensabschnitt ist sich Rasch treu geblieben. In seinem Lehrbuch „Forensische Psychiatrie“, das 1999 in einer zweiten Auflage erscheinen ist, verweist er im Vorwort darauf, dass die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Außenseitern in Zyklen verläuft. Nach der Zeit der Reformen sei die Zeit nun von Gesetzesverschärfungen geprägt. Damit meinte er das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten. „Vielleicht ist auch mal wieder eine Phase zu erwarten“, hofft Wilfried Rasch, die durch mehr Verständnis und humanitäres Engagement für die Außenseiter gekennzeichnet sei.
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