: Endlich Schwester!
Familienstrukturen zerfasern, der Trend zum Einzelkind ist ungebrochen. Da überrascht eine Idee aus Amerika: „Big Sister“. Eine Frau und ein Mädchen teilen ihre Freizeit und lernen nebenbei noch voneinander. Ein Modell auch für Deutschland
von ANNETTE KANIS
Es war ein blind date der besonderen Art. Fast zwanzig Jahre Altersunterschied, Ziel: die Schwesternschaft. Davor Herzklopfen und viele Fragen: Passen wir zueinander? Werden wir uns mögen? Was sagt man beim ersten Mal? Wie das halt so ist bei einem blind date.
Mandys Pokémonkarten halfen über die Aufregung beim ersten Treffen hinweg. Die japanischen Taschenmonster waren nur eine der vielen Neuigkeiten für Ulrike Boldt, als sie von einem auf den anderen Tag zur großen Schwester wurde. Beim Treffen mit Mandy ging es nicht um eine entstehende Patchworkfamilie oder um die Zusammenführung verschollener Geschwister – die neunjährige Mandy und die 28-jährige Ulrike kamen durch das Projekt „Big Sister“ zusammen.
Seit Pfingsten treffen sie sich regelmäßig. Bummeln durch Düsseldorf, gehen Schwimmen, stöbern in der Stadtbücherei, fahren Kettenkarussell auf der Kirmes. Oder melken eine Ziege. So wie auf dem Abenteuerspielplatz in Düsseldorf-Eller. Heute ist hier „Groschenmarkt“, eine Kinderattraktion mit Spielen für zehn Pfennig. Mandy ist gerüstet mit achtzig Zehnern. So viele Spiele werden die beiden an diesem Nachmittag allerdings nicht schaffen. Großzügig lädt Mandy die neue große Schwester ein zum Wettmelken. Die beiden hocken sich links und rechts neben eine Plastikziege. Schwesterliche Verbundenheit in den konzentrierten Gesichtern. Keine lauten Worte, kein hektisches Gealbere. Überlegtes, flinkes Ziehen am Gummieuter.
Rein äußerlich ähneln die beiden sich nur in den langen Wimpern. Klämmerchen mit Silbersternen halten Mandys hellbraunes, glattes Haar aus dem Gesicht, Ulrikes blonder, leicht gelockter Kurzhaarschnitt kommt ohne aus. Mandy ist mit ihren blauen Halbschuhen gut gerüstet für jegliches Spielplatzabenteuer, Ulrike wird die weißen Baumwollschuhe später in der Waschmaschine vom Matsch befreien müssen. Das Melkwasser spritzt in die Behälter. Bei Ulrike füllt er sich nur langsam. Mandy gewinnt und strahlt. Der Sieg über die große Schwester – ein besonderes Gefühl.
„Wir machen Sachen, die Mandy sich wünscht“, sagt Ulrike Boldt, die im Vermitteln von Schauspielern besser ist als im Melken von Plastikziegen. Sie hat sich vor einem Jahr mit ihrer Schauspieler- und PR-Agentur selbstständig gemacht. Die Aufträge liefen und laufen gut, aber die Arbeit sollte nicht alles sein. „Ich wollte gerne etwas Soziales machen.“ Das passende Betätigungsfeld zu finden war nicht so einfach. Im Radio hörte sie zum ersten Mal von „Big Sister“ und war sofort begeistert von der Idee, dass Schwesternbande gesponnen werden zwischen Frauen, die etwas weitergeben wollen, und Mädchen, die eine ältere Ansprechpartnerin und Freundin suchen.
Damals hatte Mandy schon einige Wochen auf eine große Schwester gewartet. Die wollte sie unbedingt haben, nachdem in ihrer Kindertagesstätte über das Projekt informiert worden war. Sie bewarb sich um eine große Schwester, aber erst mal kamen vertröstende Briefe, denn es dauerte etwas, bis eine Frau in der Nähe gefunden wurde. Heute ist Mandy immer noch Einzelkind, die Zeit mit der berufstätigen, allein erziehenden Mutter ist immer noch begrenzt, den Vater sieht sie nach der Scheidung nur alle zwei Wochen. Mandy ist immer noch gut in der Schule und hat ihre Freundinnen. Aber hinzugekommen ist eine Frau, von der Mandy sagt: „Die find ich einfach sehr nett. Schön, dass man mit ihr was unternehmen kann.“
Dass Mandy und Ulrike heute Schwestern sind, haben sie der Krimilust von Brigitte Klose-Grigull zu verdanken. Die hatte vor drei Jahren „Carlotta“ verschlungen, einen Thriller der amerikanischen Autorin Linda Barnes. Und dabei war ihr Paolina aufgefallen, die kleine Schwester der Privatdetektivin Carlotta Carlyle, die eine wichtige Rolle beim Lösen des Falls spielte. Ihr Interesse weckte vor allem die Verbindung zwischen dem Mädchen und der Frau, denn die beiden waren Schwestern, ohne miteinander verwandt zu sein.
Die Anfänge dieser unkonventionellen Beziehung werden gleich im ersten Band „Carlotta steigt ein“ geklärt: „Als ich noch Polizistin war, ist eine Frau von der Big Sister Association aufs Revier gekommen, um für ihre Sache zu werben. Sie sagte, allein im Einzugsgebiet Boston würden hunderte von Mädchen ohne positive Rollenmodelle aufwachsen, Mädchen, die eine große Schwester gut gebrauchen könnten. Dieser persönliche Ansatz klang für mich einleuchtend. Ich meldete mich auf der Stelle, und wurde einen Monat später mit Paolina belohnt.“
Die Idee überzeugte auch Brigitte Klose-Grigull sofort. Zunächst kontaktiere sie Verlag und Übersetzer, um zu klären, ob es sich bei der „Big Sister Association“ um eine Erfindung oder um Realität handelte. Es stellte sich heraus, dass die Krimifiktion durchaus schon Wirklichkeit ist. In den USA, in Frankreich, Dänemark, Großbritannien und anderen Ländern Europas gab es schon solche Projekte. Wenn auch in jeweils eigener Form. Mal für Jungen und Mädchen, mal speziell für Mädchen, mal als Vorstufe zur Adoption, mal als Begleitung für Kinder mit psychologischen Problemen, mal als freundschaftliche Unterstützung.
Dann kam die rot-grüne Regierungsbildung nach der Bundestagswahl vom Oktober 1998 und lieferte Brigitte Klose-Grigull den letzten Anstoß, auch in Deutschland solch einen Versuch zu starten – und zwar speziell für Mädchen. „Plötzlich, in der neuen Bundesregierung, hatten die Frauen das Nachsehen, weil die Männer ein cleveres Netzwerk hatten. Viele Frauen in der SPD waren knatschig deswegen. Aber wir Frauen sind, was Netzwerke angeht, einfach auch ein bisschen blöd.“ Selbsterkenntnis und Wut wandelte die langjährige SPD-Aktivistin um in die Suche nach Verbündeten. Was folgte, waren eine formal mühselige Vereinsgründung, eine unermüdliche Suche nach Sponsoren und jede Menge Öffentlichkeitsarbeit. Im Juni 1999 kamen die ersten Schwesternpaare zusammen.
Heute liegt der Auslöser für die Idee in einem Bücherregal, auf einem überquellenden Bord speziell für Krimis. Daneben steht der Schreibtisch mit dem Apple-Rechner. Hier schreibt Brigitte Klose-Grigull hauptberuflich Kinderbücher. Und hier organisiert sie ehrenamtlich das „Big Sister“-Projekt.
So gemütlich das Arbeitszimmer mit seinen blauen Dielen, den Balken an der Decke und dem Blick auf den Waldesrand ist – das Fachwerkhaus liegt in einem kleinen Städtchen zwischen Düsseldorf und Wuppertal alles andere als zentral. Die Wünsche für die Zukunft sind daher ganz konkret. „Wir wollen ein Büro in Düsseldorf, am liebsten zwei Räume, in denen Mädchen und Frauen auch einfacher Kontakt zu uns aufnehmen und sich treffen können. Und wir wollen eine bezahlte Stelle.“
Die mühsam erworbenen Sponsorengelder reichen nicht weit, und irgendwann ist das Potenzial der ehrenamtlich Mitwirkenden ausgeschöpft. Klose-Grigull hofft daher auf eine „betagte Unternehmerin mit ganz viel Geld“, der die Idee der großen Schwestern eine große Spende wert sein könnte. Auf öffentliche Gelder setzt sie einstweilen nicht mehr: „Das Land Nordrhein-Westfalen weiß nicht einmal, wo es unser Projekt eingliedern soll.“
Zwei prominente Frauen jedenfalls werben schon für „Big Sister“: Britta Steilmann, ehemals Modedesignerin und jetzt Unternehmerin in der Internetbranche, kann per E-Mail als virtuelle Schwester kontaktiert werden, und auch Fußballerin Martina Voss engagiert sich als Patin. Frauen, die Vorbilder sein können für Mädchen. Ebenso wie die aktiven großen Schwestern, die etwa als Computerfachfrau arbeiten, als Personalmanagerin, Kfz-Mechanikerin, Designerin oder Eventorganisatorin. Alle sind sie berufstätig, zwischen Mitte zwanzig und vierzig und meist noch nicht selbst Mutter. Lust auf Kuchenbacken beim Gemeindebasar hatte keine von ihnen, auch nicht auf Vereinsmitgliedschaft und starre Termine.
Die Verpflichtung als Big Sister ist personenbezogen und nicht gruppenfixiert. „Big Sisters stehen für ein Ehrenamt, das sich löst vom aufopfernden Image einer Mutter Beimer“, so Brigitte Klose-Grigull. „Wir sagen: Macht es, denn ihr werdet auch etwas davon haben.“ Das kann Ulrike Boldt nach mittlerweile halbjährigem Dasein als große Schwester mit Bestimmtheit sagen: „Die Stunden mit Mandy machen meinen Kopf frei, und ich merke, wie sich mein durch die Arbeit geprägter Blickwinkel zurecht rückt.“
Wenn Ulrike Boldt in diesem Zusammenhang überzeugt von „der Natürlichkeit und Unbeschwertheit der Kinder“ spricht, kommt ihr das selbst fast ein wenig kitschig vor. Dabei ist ihre Begründung, warum sie sich auf diese Weise sozial engagiert, überaus plausibel: „Wenn es einem selber gut geht, sollte man etwas davon weitergeben. Wenn das mehr Menschen machen würden, sähe die Welt nicht mehr so düster aus, wie sie einem manchmal erscheint.“
Dieses Gefühl will sie neben all dem Eisessen und Ins-Kino-Gehen, den freundschaftlichen Gesprächen und gemeinsamen Entdeckungen auch an die kleine Schwester vermitteln. „Vielleicht macht Mandy in zehn Jahren dann mal etwas mit meiner Tochter, oder irgendeinem anderen Mädchen.“
ANNETTE KANIS, 31, lebt als freie Journalistin in Düsseldorf
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