: Eierdiebe in Handschellen
Juristen und Politiker sind sich uneinig darüber, ob Ladendiebstahl ein Bagatell- oder Massendelikt ist. Bislang werden zahlungswillige Ersttäter aber in der Regel von Kriminalisierung verschont
von OLE SCHULZ
Mecklenburg-Vorpommern war mit gutem Beispiel vorgeprescht: Im vergangenen Herbst hatte Ministerpräsident und Justizminister Harald Ringstorff (SPD) den so genannten „Eierdieberlass“ verfügt. Demnach sollten die Staatsanwaltschaften bei Ersttätern das Verfahren einstellen, wenn der Wert der geklauten Ware unter 100 Mark lag. Endlich wurde die schon seit Jahren viel diskutierte Entkriminalisierung von Bagatelldelikten einmal ernst genommen.
Doch kurz darauf wehte im hohen Norden auf einmal ein erheblich schärferer Wind. Ringstorff redete nun davon, der Erlass sei in der Öffentlichkeit als „Einladung zum Ladendiebstahl“ missverstanden worden; „um der Abschreckung willen“ hob er ihn daher im Januar auf. Das war umso überraschender, weil die Zahl der Ladendiebstähle nach dem Eierdieberlass im Vergleich zum Vorjahr keinesfalls gestiegen war, sondern sich sogar um acht Prozent verringert hatte.
Trotzdem meinte Ringstorff, „ein deutliches Zeichen“ setzen zu müssen, und die Strafen für Ladendiebstahl wurden aus heiterem Himmel drastisch erhöht. Jetzt muss schon der Ersttäter mit einer Geldbuße in der Höhe eines Wochenlohnes rechnen, was der unberechenbare Ringstorff für ebenso „hart“ wie „gerecht“ hält.
Obwohl die rot-grüne Bundesregierung zum Amtsantritt eine Entkriminalisierung von Bagatelldelikten auf ihre Fahnen geschrieben hatte, scheint Ministerpräsident Ringstorff mit seinen markigen Worten näher am Geist der Zeit zu liegen. „Auch die Ersttäter von Ladendiebstählen müssen die Härte des Gesetzes spüren!“, verkündete etwa auch Sachsens Justizminister Steffen Heitmann (CDU). Ladendiebstahl sei kein Bagatell- sondern ein „Massendelikt“, heißt es dazu aus Sachsens Justizministerium.
Nach Paragraf 153 a des Strafgesetzbuches (StGB), „Einstellung gegen Geldauflage“, bietet die Polizei des Freistaats Ersttätern an, bei Zahlung von 100 Mark das Verfahren ad acta zu legen. In einigen Kaufhäusern hat die Polizei dazu eigene Aufnahmebüros für Ladendiebstähle eingerichtet. Während inzwischen mehrere Oberlandesgerichte entschieden haben, dass Diebstahlsverfahren unter 100 Mark bei Ersttätern in der Regel auf Grund von „Geringfügigkeit“ eingestellt werden sollten – was auch in Berlin als ungeschriebenes „Moabiter Landrecht“ gilt –, glaubt man andernorts, umso härter durchgreifen zu müssen.
Vor zwei Wochen startete zuletzt der Freistaat Bayern einen „Modellversuch“ in Nürnberg: Jedem zum ersten Mal auf frischer Tat ertappten Langfinger wird hier angeboten, „freiwillig“ einen bestimmten Geldbetrag „sofort“ an die Polizeibeamten zu zahlen oder an die Staatskasse zu überweisen. Ein solcher „Soforteinbehalt“ soll immerhin das neunfache des entwendeten Warenwertes betragen. Was Betroffene wohl eher als Erpressung empfinden mögen, nennt Bayerns Justizminister Manfred Weiß (CSU) ein „Angebot“.
Ein solches Vorgehen soll aber nichts mit dem „Strafgeld“ zu tun haben, das Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin (SPD) vor einiger Zeit in die Diskussion gebracht hatte: Nach diesem Vorschlag sollte die Polizei bei Diebstählen ein neuartiges Strafgeld nach einem Katalog ähnlich wie bei Ordnungswiedrigkeiten verhängen können. Wenn Diebstahl wie Falschparken behandelt würde, werde er zum Kavaliersdelikt verklärt, monierte daraufhin etwa Sachsens Justizminister Heitmann, Entkriminalisierung sei aber „ein grundlegend falsches Signal“. Gleichwohl haben alle Ansätze eins gemein: Es geht ihnen in erster Linie um eine Entlastung der überforderten Justiz – der größte Teil der Arbeit soll fortan von der Polizei erledigt werden, die damit langsam zur Judikative mutiert.
Nicht zuletzt weil die Staatsanwaltschaften massenhaft unerledigte Verfahren vor sich herschieben und die Gefängnisse überfüllt sind, hat Däubler-Gmelin neben der Reform des Zivil- und Strafprozesses angekündigt, auch das System der strafrechtlichen Sanktionsformen erweitern zu wollen. Dadurch sollen vor allem kurze Freiheits- und so genannte „Ersatzfreiheitsstrafen“ vermieden werden, die jene verbüßen, die Geldstrafen nicht bezahlen wollen oder können – ihre Zahl ist seit Jahren steigend. Ein Referentenentwurf wird derzeit im Justizministerium erarbeitet, im Mittelpunkt steht der Ansatz „Schwitzen statt sitzen“ – also gemeinnützige Arbeit anstelle von Freiheits- und Geldstrafen häufiger als bisher zu gewähren. Die freien Träger der Straffälligenhilfe rechnen allerdings damit, dass die dafür notwendige Änderung des StGB nicht vor 2002 erfolgen wird.
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