: Ambivalenz liefern
Wozu Kultur? Die Akademie der Künste fragte bei Stölzl und Naumann, Systemtheoretikern und Biologen nach
Auf Nietzsche und seine Warnung vor der Barbarei beriefen sie sich alle mit Wohlbehagen. Karl Hegemann, Dramaturg der Volksbühne, strahlte, weil der Vordenker der Dekonstruktivisten allmählich volkstümlich geworden ist. „Wahrheiten zerfallen, kaum dass sie ausgesprochen sind“, schob er schnell nach und baute den Wünschen vor, dass die Künste ein Gesamtbild der Gesellschaft oder eine verbindliche Symbolsprache zu liefern hätten, die das nicht mehr Verstehbare der Wissenschaften ausbalanciere. Zu den Paradoxien gehört für ihn, am Theater festzuhalten, auch wenn man es als anachronistische Anstalt in marktwirtschaftlich orientierten Zeiten erkannt hat. Unterstützt wurde er von Dirk Baecker, der Kultur als „Ambivalenz-Lieferanten“ beschrieb: „Orientierung durch Desorientierung“. Das Buch des Systemtheoretikers „Wozu Kultur?“ hatte der Diskussion den Titel geliefert.
Die gut gelaunte Herrenrunde bildete den Auftakt zu einer neuen Gesprächsreihe, die vom Rat für die Künste und der Akademie vorbereitet wird. Es ist ein Versuch, aus dem Streit um Etatfragen herauszukommen, der in Berlin fast jede kulturpolitische Diskussion ersetzt hat. Kultursenator Christoph Stölzl und Minister Michael Naumann beteiligten sich denn auch mit sichtlicher Freude: Endlich standen sie sich einmal nicht als Vertreter Berlins und des Bundes gegenüber, sondern konnten sich aufgrund ihrer Erfahrungen heraus widersprechen.
Zum Beispiel zur These von wachsender Kulturfeindlichkeit, mit der Jens Jessen, Feuilletonchef der Zeit, das Gespräch eröffnete. Kultur werde als Minderheitenprogramm verdammt und von liberalen Politikern als undemokratisch und antiökonomisch kritisiert, fasste er zusammen. Naumann stimmte ihm zu, dass das Geld für Kultur in vielen Gremien nur wie ein „Gnadenbeweis“ gegeben wird und ihre Förderung mehr Widerstände als der Bau einer Umgehungsstraße zu überwinden hat. Stölzl dagegen begegnete der Legitimation durch Nachfrage mit einem Witz: Aus Angst vorm Sterben gelobt ein Bayer, „wenn ich noch einmal davonkomme, gehe ich auch in die Pinakothek“. Selbst wer nie den Weg ins Museum findet, sei für deren Erhalt, meinte er.
Wer mit dem Zeitgeist flirtet, kommt nicht mehr ohne Biologen aus. Für diese Position war Detlev Ganten eingeladen, wissenschaftlicher Stiftungsvorstand des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin-Buch und Volksbühnen-Fan. Er setzt in Kultur die Hoffnung, durch eine Symbolsprache intuitiv zu vermitteln, was nicht mehr erklärbar ist. Hegemanns Aufbegehren nahm er mit Gelassenheit; schließlich seien unterschiedliche Interpretationen eines Begriffs noch immer seine produktivste Handhabe.
Die Zuhörer im vollen Saal fühlten sich gut unterhalten. Eine eindeutige Antwort auf die Frage „Wozu Kultur?“ schien sowieso niemand erwartet zu haben. KATRIN BETTINA MÜLLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen