Radiogeheul: Kraftwort zum Totensonntag
■ Radio Bremen hat Allen Ginsbergs apokalyptisches Gedicht „Das Geheul“ als Hörspiel eingerichtet / Ursendung Sonntag
Die Vereinigten Staaten von Amerika waren gerade auf dem besten Weg, zu einer völlig repressiven Gesellschaft zu werden, als sich ein junger Schriftsteller an seinen Schreibtisch setzte. „Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Wahnsinn zerstört, verhungernd hysterisch nackt“, schrieb der 30-jährige Allen Ginsberg 1955/56 in den Anfang eines Gedichts und ließ diesem Satz eine infernalische Abrechnung mit dem Moloch USA folgen. „The Howl“/„Das Geheul“ war in der Welt und bescherte Ginsberg und seinem Verleger Klagen und dem Autor selbst den Beginn einer großen literarischen Karriere. Jetzt, 45 Jahre danach, hat Radio Bremen zusammen mit dem DeutschlandRadio eine Hörspielfassung des Gedichts produziert und serviert sie – passenderweise – zum Totensonntag im Nachmittagsprogramm.
„Das Geheul“ ist ein Triptychon der Wortmalerei. Im ersten Teil lässt Ginsberg eine wüste und alptraumhafte Vision auf die LeserInnen oder HörerInnen los. Die mit alttestamentarischen Zitaten gespickte Bestandsaufnahme sexueller und von Drogen gepuschter Exzesse macht diesen Text zu einem Dante schen Inferno des 20. Jahrhunderts. Im zweiten Teil verwandelt sich der Visionär in einen Ankläger des menschenverachtend gewordenen, vollkommen in Dreck aller Art versunkenen „Systems“. Im elegischen Schlussteil treten homoerotische Zärtlichkeit, tiefe Trauer und zugleich auch ein wiedergeburtshafter Hoffnungsschimmer zu Tage.
Der Autor und Komponist Ronald Steckel hat diesen Text neu übersetzt und für die Radioproduktion eingerichtet. Unter Steckels Regie spricht Martin Engler nur den zweiten Teil mit Unterstützung von Halleffekten wie eine wütende Mischform aus Radiopredigt und Ansprache bei einer Demonstration. Den Anfangs- und Schlussteil trägt Engler dagegen überraschend ruhig und unwütend und nur vom Rhythmus des Atems bestimmt vor. Das macht die Aufnahme äußerst irritierend und eindringlich. Ich wollte „nachfolgenden Generationen eine Zeitbombe hinterlassen, die immer wieder im US-Bewusstsein explodieren sollte“, schrieb Ginsberg 30 Jahre nach Veröffentlichung seines wohl bekanntesten Gedichts. Ihm verdankt er seine lexikalische Kurzeinordnung als einer der wichtigsten Schriftsteller der Beat-Generation. Aus heutiger Sicht liest und hört sich „Das Geheul“ als Vorwegnahme des Vietnamkriegs-Traumas und des Aufstands der 60er Jahre. Es überrascht, wie viele Bilder aus Dokumentarfilmen dieser apokalyptischen Vision entsprechen und wie viele inszenierte Bilder aus Spielfilmen sich auf „Das Geheul“ beziehen. Ginsberg wollte mit seinem Text auch erreichen, dass „ein sauberes angelsächsisches Kraftwort mit vier Buchstaben für immer in den Schulbüchern Eingang findet“ und dass so dem zunehmenden autoritären Druck der Wind aus den Segeln genommen wird. Mal gucken, ob sich der Fick in deutscher Übersetzung heute einfach versendet oder auf den Druck der Kunstsprache autoritärer Gegendruck folgt. Man weiß ja nie, wer sich ins Programm zappt. ck
Ursendung „Das Geheul“ am Sonntag, 26. November, 17.05 Uhr auf Radio Bremen 2
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