: Nihilismus im Untergrund
„Der ganze Wagen ist eine revolutionäre Zelle“: Der Aktivist Christoph Schlingensief produziert seine neue MTV-Talkshow „U 3000“ in der Berliner U-Bahn – und wirkt dabei ein wenig angestrengt
von CHRISTIANE KÜHL
Heute fährt die Revolution erster Klasse. Von Britz Süd zum Berliner Rohrdamm und zurück. Mit der U-Bahn. Als Massenverkehrsmittel steht die ja generell im Dienst der Bewegung, überrascht an diesem Sonntag aber mit rotem Samt, Tapete und DJ. Man könnte fast vergessen, in welcher Mission gerollt wird, wären da nicht diese aufgeregten MTV-Mädchen mit Mikrofon vorm Mund: „Der ganze Wagen ist eine revolutionäre Zelle. Ihr müsst toben, wenn Christoph kommt!“ Solches lässt das Zielpublikum unbeeindruckt. „Das ist ja so was von konservativ hier“, mault der junge Baseballcap-Träger neben der Tür, „das glaubste gar nicht.“
Christoph Schlingensief hat eine neue Fernsehshow: „U 3000“. Nachdem 1997 die Kanal-4-Produktion „Talk 2000“, aufgezeichnet in der Kantine der Berliner Volksbühne, auf RTL und Sat.1 zum großen Überraschungshit wurde, stand der Splatterfilm- und Theaterregisseur mit mehreren Sendern über ein Folgekonzept in Verhandlung. Mit MTV gab es schließlich eine Einigung: Acht Folgen von „U 3000“, abgedreht in acht 90-minütigen U-Bahn-Fahrten, werden ab heute in die Wohnzimmer geschickt.
Tödlicher Blick
Ursprünglich sollte das unter dem Titel „Die Todesfahrt der U 3000“ geschehen, aber da hatten die Berliner Verkehrsbetriebe Bedenken, schon vor Kamprun. Dabei sind Leichen bei Schlingensief gar nicht verkehrs-, sondern medientechnisch bedingt: Der Blick in die Kamera sei tödlich, erläuterte er kürzlich in der FAZ, der Blick in den Fernseher der Blick auf den Friedhof. „Und genau da muss jeder hin. Und weil er das weiß, kann er schon jetzt in die Kamera blicken und unseren Verdacht unterstützen, dass das, was er da von sich zeigt, sowieso schon tot ist.“
Zombiebespiegelung der avancierteren Art. Ein Konzept hat die Sendung natürlich auch. Bzw. – hatte sie, musste sich während der Dreharbeiten aber der normativen Kraft des Faktischen beugen. Immerhin: „Eckpfeiler“ gäbe es schon noch, erklärt der Assistent des Regisseurs beim Tunnel-Dreh.
Jede Folge hat ein Thema, und jedes Mal sind eine Berliner Familie sowie Prominente eingeladen. Die Themenliste muss telefonisch erfragt werden – das wiederum ist gar nicht so einfach: Die verantwortliche Dame bekommt einen fernmündlichen Lachanfall. Man müsse entschuldigen, aber sie arbeiteten „inhaltlich spektral“. Sehr schöne Beschreibung, verschlägt ihr allerdings selbst die Sprache.
Erst vier Stunden später ruft sie zurück: „Militär/Verteidigung/Überlebenstechniken“ sei z. B. ein Thema, mit Jürgen Laarmann und Elmar Schmähling.
Heute ist das Thema also „Revolution/Rebellion/Jugendbewegung“, weshalb dort, wo in der U-Bahn gemeinhin Werbung hängt, Bilder von Che Guevara und Jesus leuchten. Als jüngste Vertreter dieser Linie springen an der ersten Haltestelle Christoph Schlingensief und Bernhard Schütz in Tarnanzügen in den Zug. Ihr „Töten! Töten!“-Chor veranlasst auf der Stelle zum rhythmischen Mitklatschen.
Der TV-Ganove Rolf Zacher steigt zu, wirkt allerdings wie mit Tranqualizern zugedröhnt. Dann die Jacob Sisters samt aufgeputschten Pudeln. Nur Vater Magister, mit Frau und Söhnen an Bord, handled die Situation mit telegenem Purismus: „Ich bin 46 Jahre, habe sieben Kinder, unsere Wohnung ist ausgebrannt. Ansonsten bin ich arbeitslos und habe eben keine Arbeit. Jetzt wohnen wir in Neukölln und haben uns so eingelebt. Ja, was soll ich dazu noch sagen?“
Jeder ein Moderator
Mit „Talk 2000“ wollte Schlingensief „beweisen, dass jeder Fernsehmoderator sein kann“. Natürlich hat er diesen Beweis nicht erbracht. Abgesehen davon, dass er seinem Gast Harald Schmidt heillos unterlegen war, waren seine Erfolge – unvergessen Ingrid Steegers Tränen! – selbstverständlich der Tatsache geschuldet, dass es Mr. Energieschleuder himself war, der hier eine Talkshow als Ausweitung der Nihilismuszone zelebrierte.
Auch „U 3000“ lebt von der Verausgabung seines Protagonisten. Diesmal aber ist das für die Gäste weniger Irritation als Voraussetzung ihres Engagements. Das Brüllen von Parolen und Versatzstücken des bekannten Schlingensief-Programms – „Wagner! Filmförderung! Dutschke!“ –, selbst das Verprügeln eines „Kapitalistenschweins“ im Publikum wird allseits mit Lächeln quittiert. Ob das, was beim Dreh angestrengt-willkürlich wirkt, im Fernsehen formatsprengend sein kann? Der Schnitt entscheidet, denn gerade mal 30 Minuten vom Material aus den vielen Handkameras überleben. Xavier Naidoo, am Revolutionssonntag mit den Söhnen Mannheims im Musikwagen dabei, glaubt jedenfalls fest daran. „Um die Schmerzen auszumerzen/brauchst du Licht in deiner Sicht“, singt er zum Kreischen einer U-Bahn-Ladung Kids in die Kamera: „Schlingensief gucken!“
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