: Wehende Fahnen, flammende Lippen
Alles, was rot und Umbruch ist: Der russische Fotograf Valerij Stignejew sucht in den Städten Moskau und Berlin nach den Farben der neuen Zeit
von ANDREAS HERGETH
Dieses satte, leuchtende Rot. Es ist überall im Moskauer Straßenbild zu sehen, und so taucht es auch immer wieder in den Fotografien von Valerij Stignejew auf: Ein Veteran des Zweiten Weltkrieges zum Beispiel hält neben einem Stalin-Bild eine rote Fahne in die Luft, demonstriert ganz allein für die Rückkehr zum Kommunismus. Auf dem Bild gegenüber steht wiederum eine rote Fahne im Mittelpunkt. Nur trägt sie nicht Hammer und Sichel, sondern ein goldenes Kreuz – zu sehen ist ein Kundgebung rechtsradikaler Gruppen.
Der Fotograf Valerij Stignejew lebt seit mehr als 40 Jahren in Moskau. Bei seinen zahlreichen Berlinbesuchen in den letzten zehn Jahren hat er Parallelen zu seiner Heimatstadt entdeckt: In beiden Städten überlagern die Zeichen und Symbole der neuen Zeit die Spuren der alten Zeitrechnung. Wohl deshalb arbeitet der Russe oft mit Überblendungen und Spiegelungen, der Überlagerung von zwei Bildern. „Was war, spiegelt sich in dem, was erst wird. Und das Neue nimmt Maß an dem, was es schon gibt“, schreibt Karl Schlögel im Bildband „Moskau – Berlin“, der anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum in Karlshorst erschienen ist.
Dabei ist die Überlagerung von alter Kathedrale und schicker Dior-Werbung, die Gegenüberstellung von McDonald’s und einem gebeugten Mütterchen kein billiger Effekt, sondern eine der Moskauer Wirklichkeit angemessene ästhetische Form. Überhaupt zeigt Stignejew die russische Hauptstadt von einer anderen Seite; endlich mal keine Klischees, die allein Verfall und Trinker, Obdachlose und andere Gestrandete ablichten. Seine Bilder erweitern den Blick auf Russland. Rentner schwofen im Freien, überall geschäftiges Treiben, bröckelnder Putz neben frisch gestrichenen Fassaden. Wenige Neubauten gibt es hier, dafür aber bunte Werbung zuhauf. Die Zigarettenmarke „West“ wirbt mit sinnlichen, natürlich dunkelroten Lippen, darüber liegen die Spiegelbilder von tristen, grauen Hochhäusern und einem Lenin-Denkmal.
Bewusst hat sich Valerij Stignejew entschieden, für dieses Projekt von der Schwarzweißfotografie zur Farbfotografie zu wechseln, sind die kraftvollen Farben doch ein wichtiges Element, um die Zeichen der neuen Zeit einzufangen. Die fand der 63-Jährige mit seinem Außenseiterblick auch in Berlin. Viel Wachsendes und Fertiges, bunt und vor allem schick: mächtige Kräne, Stahl, Glasfronten, die Hochhäuser am Potsdamer Platz.
In Berlin wirkt alles größer und protziger. Dafür sieht man auf den Fotos kaum Menschen. Das reiche Deutschland besitzt andere Ressourcen als die Anstrengung von Millionen von Menschen, um die historischen Brüche in der Stadtlandschaft zu übertünchen.
Valerij Stignejew: „Moskau – Berlin“ (deutsch und russisch). Espresso Verlag, Berlin 2000, 98 Seiten, 36 DMDie Ausstellung mit den Fotografien von Valerij Stignejew ist noch bis7. Januar zu sehen. Di.–So. 10–18 Uhr. Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst, Zwieseler Straße 4
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