die stimme der kritik: Betr.: Neue Verkehrspolitik für Fußgänger
Buße für Langweiler!
Dass die Weihnachtszeit die Zeit des Krieges ist, speziell innerhalb der Familie, ist nicht neu, weil die Boulevardpresse die blutigen Details stets akribisch dokumentiert. Weniger bekannt war bisher, dass es in diesen Tagen auch auf manchen Bürgersteigen äußerst brutal zugeht. Umso mehr zu loben sind die Aktivitäten einiger Geschäftsleute aus der Londoner Oxford Street, die die Ursachen dieses ganz besonderen Straßenkriegs ermittelt haben.
Vor dem Christfest sinke, was vor allem den Touristen anzulasten sei, die Durchschnittsgeschwindigkeit der Fußgänger auf gerade mal 1,6 Stundenkilometer, sagt eine Sprecherin der Initiative. Und das führe zu „Aggressionen“ bei Passanten, die sich ein derart niedriges Tempo nicht leisten können, insbesondere bei den rund 60.000 Menschen, die in der Gegend ihrem Beruf nachgehen.
Die Ladenbesitzer wissen auch, wie sich wieder Frieden herstellen lässt. Sie haben beantragt, den Bürgersteig in zwei Spuren aufzuteilen: Auf der so genannten Überholspur muss man mindestens 4,8 Stundenkilometer schnell sein, wenn man nicht eine Buße von 10 Pfund (32 Mark) zahlen will; auf der anderen Spur dagegen – das dürfte nicht zuletzt die Benutzer von Krücken freuen – ist jedes Tempo erlaubt. Der Vorstoß ist umso wichtiger, als es auch zu anderen Jahreszeiten in der Oxford Street zu Konflikten kommt, weil immer mehr Menschen dort „den Käfig der Zeitvorgaben verlassen“, wie es die Publizistin Professorin Dr. phil. Gertrud Höhler unlängst im Auftrag der British American Tobacco GmbH formuliert hat.
Die Idee der Londoner Geschäftsleute wirkt, wenngleich sie sich auch für andere Großstädte und Tourismus-Ballungszentren aufdrängt, insgesamt noch etwas halbherzig. Warum führt man nicht gleich, wie auf der Autobahn, sechs Spuren ein: eine für Shopper, die genau wissen, wo und was sie kaufen wollen, eine für jene, die noch die Schaufenster studieren müssen, eine für Touristen mit Oxford-Street-Erfahrung und eine für Novizen sowie eine für Berufstätige, die gerade Pause haben, und eine für solche, die permanent im „Wildwasser der Businesszeit“ (Höhler) paddeln?
Sechs Spuren – das hieße auch mehr neue Arbeitsplätze. Bisher sind nur 30 Tempowächter vorgesehen. Aber es wird ja wohl nicht so schwierig sein, weitere Freunde des Gemeinwohls zu finden, die in der Lage sind, eine Stoppuhr zu bedienen. RENÉ MARTENS
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