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Nicht vergessen – was noch?

■ Nur einen Teil der Botschaft verstanden: Das Publikum wollte im Anschluss an „Liebe Perla“ über Eugenik nicht diskutieren

Bevor der Film Liebe Perla am Dienstag im vollbesetzten 3001 Kino anlief, stellten die Mitwirkenden dar, worum es ihnen ging: Mit der Veranstaltung „Nicht Vergessen“ sollte ein Zeichen gegen das Vergessen der Verfolgten und Ermordeten des Nazi-Regimes gesetzt werden. So zeigten Hannelore Witkofski, Sozialwissenschaftlerin aus Hamburg, ihr Assistent Marius Giese und der Historiker Moritz Terfloth den Film Liebe Perla beabsichtigt am 5. Dezember: „Denn nicht vergessen wollen wir die elf kleinwüchsige Frauen, die an diesem Tag vor 56 Jahren im KZ Auschwitz ermordet wurden.“ Auch will der Film über die kleinwüchsige Künstlerin auf eine Kontinuität in der Eugenik, der Erbgesundheitsforschung, hinweisen.

Die anschließend gezeigte israelische Dokumentation Liebe Perla von Shahar Rozen wurde von Gebärdensprachendolmetschern übersetzt. Er beschreibt die beharrliche Suche des Teams um Hannelore Witkofski nach einem 1944 im Vernichtungslager Auschwitz gedrehten Film. Für seine genetischen Forschungen ließ der Lagerarzt Josef Mengele Perla Ovicis Familie, zehn Personen, von denen sieben kleinwüchsig waren, über Stunden nackt und bewegungslos vor einer Wand stehen. Diesen entwürdigenden Film soll Witkofski für Perla suchen. Zwar wird das Team nicht fündig, aber auf ihrer Suche in deutschen Archiven und Dokumenten der Gedenkstätte Auschwitz stoßen sie auf Spuren der Familie und entdecken Teile ihres Nachlasses im Yad Vashem Museum in Jerusalem.

Nach dem Film luden die Mitwirkenden ihr Publikum zu Fragen ein. Dabei fiel es den ZuschauerInnen sichtlich schwer, das Schweigen nach diesem berührenden Film zu brechen. Schließlich gab es viel Lob über den einfühlsamen Umgang mit Zeitzeugen, dann ging es um Fragen zur Entstehung des Films und um Probleme bei der Suche in deutschen Archiven. Eine Eugenik-Diskussion wurde von den ZuschauerInnen eher ausgespart.

Dabei sind die Versuche auf sogenannte genetische Abweichungen einzuwirken höchst aktuell: Wo KZ-Ärzte damals noch im Trüben nach ungeliebten Genen fischten, sind die Forschungen heute – nicht zuletzt auf der Grundlage der Forschungen im NS – weit fortgeschrittener. Fruchtwasseruntersuchungen machen es beispielsweise möglich, Embryonen mit Normabweichungen im Mutterleib zu erkennen und gar nicht erst heranwachsen zu lassen. Durch diese Macht der genetischen Diagnostik gerät die Vielfalt menschlicher Lebensformen in Gefahr. Wenn Menschen künftig in Normgrößen mit Idealgenen, quasi auf Bestellung gezüchtet werden können, kann daraus die moralische Pflicht für Frauen zur Geburt gesunder Kinder entstehen – ein brutaler Angriff auf die Würde behinderter Menschen.

Susie Reinhardt

Das Auschwitzkomitee zeigt Liebe Perla wieder am 25.1., 19 Uhr , Metropolis. Kontakt für Verleih und Mitarbeit im Komitee unter Tel: 27 87 71 70

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