piwik no script img

Vor dem Abitur in Pension

Mal abhängen? Ganz schön, aber doch nicht immerzu! Sogar die Schüler protestieren schon gegen den Unterrichtsausfall

Vertretungen dürfen zwar bei Krankheit einspringen, nicht aber den Unterrichts- ausfall durch die Frühpensionäre ausgleichen. Das scheint selbst dem Schulamt unsinnig.

aus Frankfurt HEIDE PLATEN

Volker Dorsch klagt nicht, er hält durch. Ein tapferer Mann. Das muss ein Schulleiter in Hessen heutzutage auch sein. Besonders an der Helmholtz-Schule im Frankfurter Ostend. Das Gymnasium ist die Schule mit der höchsten Frühpensionierungsquote in der Stadt. Es hat in einem Jahr ein Fünftel seines Lehrerkollegiums eingebüßt, einschließlich seines Vorgängers. Dorsch hat die Misere in diesem Herbst übernommen. Auf die über 900 SchülerInnen kommen derzeit 49 fest angestellte Lehrer. Und dann ist zum Sommer 2001 schon wieder eine neue Welle von Frühpensionierungen abzusehen. Aber das hat, sagt Dorsch, „ja noch ein bisschen Zeit“.

Das „Helmholtz“, benannt nach dem Berliner Universalgelehrten, ist ein ganz normales Gymnasium, nicht Elite, nicht sozialer Brennpunkt. Viel Waschbeton, alles etwas dunkel, es riecht nach Bohnerwachs und Schweiß, leicht muffiger Schulgeruch wie wohl schon zu Helmholtz' Zeiten.

Eigentlich war die Schule zwischenzeitlich gut, sogar überdurchschnittlich mit Planstellen versorgt. Bis die Frühpensionierungen kamen. Da war es schnell aus mit dem vollmundigen Wahlversprechen des Ministerpräsidenten Roland Koch, unter seiner Ägide werde „nie mehr eine Unterrichtsstunde ausfallen“. Kultusministerin Karin Wolff (CDU) habe, so die Opposition im Landtag, die von der Bundesregierung initiierte Frühpensionierungswelle verschlafen. Sie habe den absehbaren Notstand im Gegenteil noch verschärft, indem sie in einem eigenen Informationsschreiben im Juni nachgerade dazu aufgefordert habe, das Angebot wahrzunehmen. Rund 3.200 Lehrer werden dem bis zum Frühjahr hessenweit nachgekommen sein, fast das Doppelte der Zahl, von der eine interne Prognose des Kultusministeriums ausgegangen war. Anfang Dezember schaltete Wolff bundesweit „Hessen sucht Lehrer!“ Dass sie damit gegen die Abmachungen der Kultusministerkonferenz verstieß, nur zum Schuljahreswechsel an- und abzuwerben, brachte ihr den geballten Ärger ihrer 15 Länderkollegen ein.

Das Ministerium übt sich inzwischen in Zweckoptimismus. Trotz steigender Schülerzahlen und fehlender Lehrer wolle man Kochs Wahlversprechen einlösen. Und die hohe Zahl der Früh- und sonstigen Pensionierungen, ließ Wolff wissen, habe auch ihr Gutes. Sie gebe Planungssicherheit und lasse hoffen. Vielleicht werde die Welle 2001 abebben und alles „nächstens besser werden“.

Schulleiter Dorsch lobt die Ministerin. Sie sei in den zwei Jahren Regierungszeit „im Rahmen ihrer Möglichkeiten glaubhaft“ gewesen. Dass ihr das mit den Frühpensionierungen passiert sei, das verstehe er allerdings nicht so ganz. Vorher aber habe sie sich bemüht, das von Roland Koch im Wahlkampf gegebene Versprechen der Unterrichtsgarantie einzulösen. Dieses Lob teilt sogar die nicht gerade CDU-nahe Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Zwar wolle Wolff zurück „zur Schule, wie sie früher einmal war“, und es fehle an „Visionen“. Zunächst aber seien tatsächlich 1.700 Planstellen neu besetzt, die Unterrichtsgarantie „über 100 Prozent“ erfüllt worden.

Aus und vorbei. Vor dem kleinen Pausenbuffett im Erdgeschoss der Schule hängen die tagesaktuellen Hinweise: „Mal-AG fällt heute aus“ und „Physik-AG fällt heute aus“. Der entstandene Lehrermangel, hatte es im Büro der grünen Frankfurter Schuldezernentin Jutta Ebeling geheißen, solle, so gut oder schlecht es irgend gehe, zur Zeit noch mit Überstunden, Vetretungen und Referendaren ausgeglichen werden. Was aber besonders leide, das seien die freiwilligen Aktivitäten, die Arbeitsgemeinschaften und Kulturgruppen. Da sei, so Dorsch, das Helmholtz-Gymnasium gar nicht einmal so schlecht dran. Die evangelische Kirche finanziert seit 15 Jahren einen Pfarrer, der sich sechs Wochenstunden um die Konfliktbewältigung an der Schule kümmert, Malen und Philosophie gehören dazu. Aber der, so Dorsch, „wird im Sommer auch pensioniert“. Dorsch verweist auf die Theatergruppe. Die hat 1996 eine Förderpreis-Urkunde erhalten, die ihren Ehrenplatz in einem Glaskasten im ersten Stock vor dem Weihnachtsbaum hat. Auf dem Bord im Zimmer des Direktors drängen sich dicht die großen, silbernen Pokale. Nein, keine Sportprämien. Die vielen Trophäen hat der Schachkurs gewonnen, Basketball rangiert weit abgeschlagen. Und auch der Schulchor funktioniere gut.

Schulisches Leben also doch noch außerhalb des regulären Unterrichts? Im Sekretariat steht Benjamin Holler, 12. Klasse. Er ist in der 13-köpfigen Radio-AG, die seit fünf Jahren arbeitet und regelmäßig alle zwei Wochen eine Musiksendung für das Lokalradio produziert. Ein privater Fernsehsender hat das gefilmt. Holler überreicht dem Direktor den Mitschnitt fürs Schularchiv. AG-Ausfall wegen Lehrermangel? Nicht bei Benjamin und seinen Freunden: „Unser Kursleiter hat sich schon vor über vier Jahren verabschiedet.“ Seither kommen die Schüler ohne Lehrkraft aus, und das klappt gut: „Wir sind jetzt über den Berg.“

Dorsch verbreitet Optimismus: „Die Versorgungslage ist erträglich.“ Er lobt seine Lehrer für ihren Einsatz in Zeiten der Not. Und sichtet die Tafel mit deren Stundenplänen, alles ordentlich farblich markiert. Rot, das sind die Überstunden der Festangestellten, Gelb der reguläre Unterricht. Rot dominiert. 250 Unterrichtsstunden fehlen, rechnet er vor, aber nur 100 werden derzeit durch dreizehn Vertretungsverträge und acht Referendare abgedeckt: „Und die sind für die Zukunft mit einem Fragezeichen versehen.“ Das gilt derzeit für alle hessischen Schulen: Die Vertretungen sollen wieder gehen, in der Helmhotz-Schule zum 1. Februar 2001. Verlängerungsverträge sind nicht vorgesehen. Rein juristisch dürfen Vertretungen zwar im Krankheitsfall einspringen, nicht aber den Unterrichtsausfall durch die Frühpensionäre ausgleichen. Das scheine, sagt Dorsch, selbst dem städtischen Schulamt unsinnig: „Die geben sich wirklich Mühe, suchen jetzt nach Verlängerungsgründen und zirkeln rum.“

Dennoch sind die Engpässe kaum zu überwinden. Dorsch bilanziert: Französisch- und Lateinstunden fallen teilweise aus, kein Ethikunterricht, sei's drum, „den hatten wir eh nicht“. Aber: „Der Geschichtsunterricht in Klasse 6 fehlt komplett“, dabei ist der ab 2001 Pflichtfach. In den 9. und 10. Klassen wird er derzeit jeweils nur ein halbes Schuljahr lang gegeben. Da ist die eine Stunde Sportunterricht, auf die die 5. bis 8. Klassen verzichten müssen, fast schon Nebensache.

Im Foyer wird nach der Elf-Uhr-Pause abgehangen. Eine Schülergruppe sitzt auf dem Boden und lernt gemeinsam für die nächste Stunde, eine andere mault: „Schon wieder Ausfall.“ Helmholtz-Schüler sind engagiert, sie kämpfen gegen Rassismus, für das Bleiberecht der Kosovo-Albaner. Mal abhängen sei ja „ganz schön“, sagen sie, aber „doch nicht immerzu“. Regelmäßig schreiben sie an das Kultusministerium. Vor allem diejenigen, die kurz vor dem Abitur stehen. Und wurden rechtschaffen sauer, weil, so Schülervertreter Niklas Hartmann, ihre Briefe unbeantwortet blieben. In der letzten Plenarwoche reisten sie deshalb zur „Bescherung für Frau Wolff“ nach Wiesbaden, standen als Weihnachtsfrauen und -männer mit Ruten, Schlitten und Säcken vor dem Eingang des Landtags und überreichten ihren Wunschzettel: die Besetzung von mindestens fünf Planstellen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen