: Ein Unterschied wie Tag und Nacht
Tagsüber verkauft er „stilvolle Amerika-Häuser“, nachts verteilt er Suppe an Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Andreas Riep lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, doch als Ehrenamtlicher in einer Notübernachtung legt er drauf
von BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA
Es ist elf Uhr abends, es ist dunkel und kalt. Nur durch Zufall hat Andreas Riep die Umrisse einer Gestalt draußen vor der Tür entdeckt. Der Mann, der dort von einem Fuß auf den anderen tritt, ist mit der leichten Stoffhose und Lederjacke viel zu dünn angezogen.
„Wenn du nicht klingelst, stehst du ewig hier“, empfängt Riep den Mann, der einige Schrammen im Gesicht und nach Alkohol riecht. „Ach, ist das kalt“ sind die einzigen Worte, die dieser herausbringt, als Riep die Tür hinter ihm schließt. Nach der Rucksackabgabe und einer Unterschrift ist sein Weg frei zu einem Teller Suppe, zur Kleiderkammer, einer Dusche und einem Platz auf einer Isomatte. „Wenn die nicht wären, wäre ich erfroren“, murmelt der Mann.
Er hört einfach zu
Mit „die“ meint er Menschen wie Andreas Riep, die im Winter ihre warme Wohnung verlassen, um ohne Bezahlung jene zu betreuen, die kein Dach über dem Kopf haben. Der 37-jährige Riep arbeitet zusammen mit festangestellten Mitarbeitern und anderen Freiwilligen in einer Notübernachtung der Stadtmission in Berlin-Tiergarten. Zwischen dem 1. November und dem 31. März – so lange dauert die Kältesaison – kümmert er sich jeden Montag und Donnerstag zwischen 20 Uhr und 2 Uhr um Menschen, deren Habe in wenige Plastiktüten passt. Dann wechselt er schmutzige Bettwäsche, schenkt Suppe aus, macht sauber oder hört einfach zu. Während andere Einrichtungen der Stadtmission alle Jahre wieder zu Weihnachten von freiwilligen Helfern geradezu überrannt werden, die einmal im Jahr helfen wollen, arbeitet Riep seit fünf Jahren an einem Ort, wo niemand freiwillig hingeht.
Auch in seinem Beruf versorgt er Menschen mit einem Dach über dem Kopf. Doch der Unterschied könnte größer nicht sein: Der Kaufmann verkauft schlüsselfertige „stilvolle Amerika-Häuser“ mit Namen wie „Sudbury“, „Edmonton“ und „Glace Bay“. Für einen Quadratmeter-Festpreis von etwa 2.000 Mark bekommen seine Kunden ein luxuriöses Heim inklusive einer einwöchigen Kanada-Informationsreise, damit sie sehen, woher das Holz für ihre Eigenheime kommt. Während seine Kunden nach maximal 60 Tagen ein Haus mit Fußbodenheizung, Solaranlage, Kaminanschluss und Doppelgarage ihr eigen nennen können, begnügen sich Rieps nächtliche Klienten mit einer Isomatte in Schlafsälen, wo Raumluftwärmeaustauscher, wie sie in seinen Prospekten gepriesen werden, wirklich nötig wären. Über den Kontrast zwischen „außerordentlich zeitgemäßem Bauen mit großartigen Möglichkeiten zur Verwirklichung von exklusiv individuellen Vorstellungen“ und Obdachlosigkeit redet Riep nur ungern. „Einerseits Millionengeschäfte und andererseits Leute, die nichts in der Tasche haben“, sagt er, und es klingt, als ob er selbst nicht weiß, ob das nun ein Kontrast sein muss oder nicht. Einen eklatanten Widerspruch hingegen sieht er darin, dass „jeder eine Katze oder einen Hund streichelt, bei räudigen Menschen aber die Nase gerümpft wird“.
In seinem privaten Umfeld stößt Rieps Engagement zuweilen auf Unverständnis, zumal er als Geschäftsmann gilt, der sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt. Während ihn seine Freundin unterstützt, finden seine Eltern sein Tun „ganz daneben“: „Sie glauben, ich könnte meine Energie sinnvoller einsetzen als mit Pennern.“ Zwar seien die elterlichen Befürchtungen tätlicher Angriffe von Suchtkranken, die um sich schlagen oder spucken, oder die Gefahr, sich Läuse oder Schlimmeres zu holen, nicht ganz von der Hand zu weisen. Als ihm einmal die Autoreifen zerstochen wurden – wahrscheinlich von einem Obdachlosen mit Hausverbot –, dachte er auch „Undank ist der Welten Lohn“. Doch Riep kaufte sich neue Reifen und machte weiter kein Aufheben. Der Grund: „Die Leute sind nicht das, was sie in solchen Situation sind.“
Ein schwerer Zugang
Riep kam zum Ehrenamt zwar nicht ganz wie die Jungfrau zum Kind. Doch irgendwie war es schon wundersam. Den Ausschlag gab das Lied „Another day in paradise“ von Phil Collins. Darin wird die Geschichte einer Frau erzählt, die einen Mann auf der Straße anfleht: „Sir, can you help me? It’s cold and I’ve nowhere to sleep. Is there somewhere you can tell me?“ Doch der Mann tut so, als hätte er die Frau nicht gesehen. Während der Hilferuf in dem Lied unerhört bleibt, stieß er bei Riep auf offene Ohren. Einen christlichen Hintergrund hat er nicht. Der Mann mit den blonden Locken, der bis zur Wende in Ostberlin als Unterstufenlehrer arbeitete, einige Zeit als Immobilienmakler „gut und leicht“ Geld verdiente und vor einigen Jahren einen Abschluss als Kaufmann der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft machte, will etwas tun gegen Dinge, die ihm nicht in den Kopf wollen. „Es ist erschreckend, in einer vermögenden Nation Leute zu sehen, die unter Brücken schlafen.“
Leicht wurde Riep der Zugang zum Ehrenamt nicht gemacht. Als er sich auf die Suche nach der passenden Einrichtung begab, fühlte er sich nicht mit offenen Armen empfangen. Nach „vielen, vielen Telefonaten“ riet ihm eine Ärztin, die seit Jahren Obdachlose behandelt, bei Notübernachtungen nachzufragen. „Bei einigen schreckten mich die Auswahlverfahren ab“, erzählt er. „Die hatten Stammgäste, und andere wurden stehen gelassen.“
Anerkennung fehlt
Bei anderen kamen zwar alle rein – doch nicht deren Tiere. Aber Riep suchte eine Einrichtung, „wo Leute, denen es dreckig geht, was zu futtern und schlafen kriegen, egal, ob sie Hunde oder Läuse haben“. Deshalb lobt er die Notübernachtung der Stadtmission als einen „wirklich niedrigschwelligen Ort“. Neben ihren Alkohol- oder Drogenproblemen können die Obdachlosen auch ihre Ratten, Vögel, Katzen und Hunde mitbringen. Nur Waffen, Drogen und Alkohol sind tabu.
Kurz nach Mitternacht ist einer der beiden Schlafsäle voll. Etwa sechzig Obdachlose haben Suppe, Tee und Lebkuchen bekommen und sich für wenig Geld mit Tabak und Blättchen eingedeckt. Vereinzelt sitzen noch Männer und Frauen an den Tischen. Sie unterhalten sich, hören Radio oder spielen Karten. Ihnen bietet Riep mit einem flotten Spruch auf den Lippen Kamillencreme gegen die rissigen Hände an. „Hier die letzte Ölung“, sagt er. Einer Frau, die am Tisch wegzudämmern droht, legt er die Hand auf den Unterarm und fordert sie auf sich hinzulegen. „Du musst doch nicht hier am Tisch schlafen!“
Riep zeigt Entgegenkommen und Distanz gleichermaßen. „Man muss ein Gefühl von Achtung lassen, aber man darf die Leute nicht zu nah an sich ranlassen.“ Dass er damit richtig liegt, bestätigt ein junger Mann, der voll des Lobes ist: „Der macht seine Arbeit astrein“, sagt er.
Diese Art der Anerkennung ist die einzige, die Riep erfährt. Von der Stadtmission, so klagt er, bekomme er nicht mal einen Handschlag. Ganz zu schweigen von der Erstattung der einen oder anderen Taxiquittung. Wenn Riep die letzte S-Bahn nach Hause, nach Potsdam, verpasst hat, zahlt er die gut 50 Mark für den Heimweg aus eigener Tasche. Das reißt dem Unternehmer zwar kein Loch ins Portemonnaie, doch wenn Worte wie „War toll, dass du die Saison hier warst“ ausbleiben, fällt so eine Ausgabe ins Gewicht. Dabei fordert Riep nur etwas, das nichts kostet – und trotzdem viel bewirken kann: ein Schulterklopfen, ein Händedruck, vielleicht eine kleine Weihnachtsfeier. Noch speist er sein Engagement über seine „Energie von innen“. Irgendwann will er weg aus Deutschland.
Die Notübernachtung der Stadtmission in Berlin-Tiergarten braucht dringend Unterwäsche, Socken, Handschuhe, Isomatten und Blutdruckmesser. Wer spenden will, kann täglich ab 19.30 Uhr anrufen unter 0 30 / 39 05 24 62.
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