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Die verbotene Kammer

Die Sammlung von Dieter Scharf in der Berliner Nationalgalerie führt in „Surreale Welten“: Privates und Verborgenes von Piranesis „Kerkern“ bis zu den „verrückten Kühen“ Dubuffets

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Wir haben keine verborgenen Räume mehr. Öffentlich wird heute so ziemlich alles – bis auf schwarze Konten: Fotos von Embryonen im Bauch erhält die Familie über Internet, Ehekrisen werden auf Titelseiten ausgebreitet, Sexualität und Paranoia in Talkshows ausgeleuchtet. Was die Surrealisten noch für ihre spezielle Kunstübung hielten – die zivilisatorische Kontrolle zu überlisten, um Verdrängtes freizulegen –, findet heute im Frühstücksfernsehen statt. Ist es da noch möglich, den Schock und das Schaudern zu erinnern, mit dem die Surrealisten einst Körperoberflächen durchstießen und in verwirrende Räume vordrangen?

Der Ausstellung „Surreale Welten“ gelingt das dank einer privaten Kunstsammlung, die fast fünfzig Jahre lang im Verborgenen wuchs, bevor sie in das helle Licht der Museen entlassen wurde. Selbst dann wurde der Name des Sammlers nicht laut genannt, bis der Familienrat des Diplomchemikers Dieter Scharf zustimmte, den größten Teil der Zeichnungen, Grafiken, Gemälde und Skulpturen in eine Stiftung umzuwandeln, die den Berliner Museen zugute kommt. Im Namen erinnert die Stiftung an Otto Gerstenberg, den Großvater von Dieter Scharf, der die Tradition des Sammelns in der Familie begründete.

Wie aber lebte es sich mit Totenschädeln von Tapies und Göttern von Klee? Hatte das Haus des Sammlers eine verbotene Kammer für die sadistischen Fantasien von Salvador Dalí und Georges Hugnet? Las er seiner Tochter Julietta Edgar Allan Poes Gedicht „Der Rabe“ vor, dessen Illustrationen von Edouard Manet schon der Großvater erworben hatte? Musste er sie trösten über die ausgerissenen Schmetterlingsflügel, aus denen Jean Dubuffet die Nase des Apollo collagiert hat? Diskutierte er mit Freunden die Interpretationen von Hans Bellmer zum Werk Batailles? Sich den privaten Gebrauch der Kunst neben der öffentlichen Lesart der Kunstgeschichte vorzustellen, macht den Reiz dieser Sammlung aus.

Denn gerade um das Private und Intime geht es den gesammelten Künstlern, fast alle Virtuosen in der Dialektik von Aufdecken und Verbergen. Das beginnt mit den „Torheiten“, die Francisco de Goya Anfang des 19. Jahrhunderts in rätselhaften Begebenheiten schilderte, und setzt sich in Max Klingers „Phantasien über einen gefundenen Handschuh“ fort, der Empfindungen des Rausches und des Kontrollverlustes in sehr seltsame Landschaften übersetzt. Man könnte die Sammlung klinisch lesen als Geschichte der bürgerlichen Neurosen, die schon auf Hochtouren liefen, bevor sich die Surrealisten dafür zuständig erklärten. Sie erst machten aus dem Aufdecken des Verborgenen eine revolutionäre Tugend. Doch was dieser Energieschub freigesetzt hat, lässt heute umso melancholischer auf die Zeiten der Dämmerung zurückschauen.

Allein wie Hans Bellmer in seinen Zeichnungen den Körper bearbeitet, findet noch immer den Weg über die Sehnerven unter die Haut. „Das durchdrungene Geheimnis der Diana von Ephesos“ ist ein nur aus Brüsten zusammengesetztes Stück Fleisch, das von Gelenk- und Getriebestangen durchbohrt wird. In einer Bleistiftzeichnung von 1963 verwandeln sich die Frauenakte zusehends in ein Skelett, als würde man ihnen die Haut mit den Blicken vom Leibe ziehen. Er fesselt Figuren mit ihren Haaren, die als feines Lineament das Blatt überschwemmen, oder lässt sie zerbrechen wie gesprungenes Glas in einem Portrait von Unica Zürn.

Als Prolog sind den surrealen Welten 16 Radierungen von Giovanni Battista Piranesi von 1760 vorangestellt. Es sind durch ihren Eklektizismus berühmt gewordene Architekturfantasien, die das ganze Repertoire der Baukunst in eine labyrinthische Innenwelt verlegen, die Carceri (Kerker). Ihre Gewölbe, Treppen, Türme und Verbindungsbrücken scheinen Vorläufer der geheimen Kommandozentralen unterirdisch operierender Bösewichter im Kino. Auf ihnen bewegen sich Figuren unterschiedlicher Größenordnungen, die nicht nur die Maßstäblichkeit zerstören, sondern auch Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen allegorischem und realistischem Personal auflösen. Dabei ist diese Montage überall von schweren Ketten und Folterwerkzeugen durchsetzt, die Aggressivität und Bedrohlichkeit der aufgelösten Ordnung steigern.

Solche Querverbindungen durch die Kunstgeschichte zu legen, unternehmen die Berliner Museen selbst viel zu selten. Ihre Freude über den Zuwachs durch die Sammlung Scharfs gilt vor allem berühmten Künstlern wie Klee, Ernst und Giacometti. Doch der eigene Charakter der Sammlung ist von der Lust an der Erzählung geprägt, die quer über Epochengrenzen hinweg einen eigenen Faden längs der Nachtseiten der Aufklärung zieht.

„Surreale Welten“, bis 11. 3., Neue Nationalgalerie, Berlin; der Katalog, 278 Seiten, kostet 45 DM

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