: Der kostenlose Wahnsinn
Auf der Grünen Woche geht es um die Wurst: Die Verbraucher essen und kaufen, als hätten sie seit Jahren nichts Kräftiges zwischen die Zähne gekriegt. Große Zuneigung gibt’s auch für Rinder
von BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA
Fleischer Lothar Vogt stellt einen Teller mit Leberwursthäppchen auf die Theke. Noch bevor er in alle einen Holzspieß gesteckt hat, sind die kostenlosen Probestückchen weg. Für die Liste mit den Zutaten für die Wurstsorten, die an der Waage hängt, interessiert sich niemand. Auch nicht für das Wort „demeter“, das über dem Stand prangt und für den ältesten biologischen Anbauverband steht. „Alles, was Sie hier sehen, ist hundertprozentig Schwein“, preist der Fleischer die Tomatenleberwurst an.
Doch den meisten Besuchern, die am dritten Tag der 66. Grünen Woche in Berlin an seinen Stand kommen, ist egal, was drin ist in der Wurst. Ganz nach dem Motto „Umsonst ist nur der Tod“ wird beherzt zugegriffen, erst recht, wenn’s nichts kostet. „Es gab ja viele Gerüchte um Leberwurst“, sagt Vogt, „aber wenn es etwas umsonst gibt, schaltet das Gehirn aus.“ Eine ältere Frau beißt beherzt in die Leberwurst: „BSE, das haben wir doch sowieso schon alle.“
Nur Hilke Meyer, eine 30-jährige Dorfhelferin aus der Nähe von Bremen, zieht ein langes Gesicht. „Was, Sie haben gar nichts mit Rindfleisch?“, fragt sie Fleischer Vogt. „Das ist ja bitter.“ Wegen einer Neurodermitis verträgt sie kein Schweinefleisch. Und über den Rinderwahnsinn hat sie ihre eigene Meinung. „BSE ist ein Wahnsinn der Medien“, sagt sie. „Ich esse demonstrativ Rindfleisch.“ Obwohl ihr „Herz auf Bio eingestellt ist“, geht sie nach wie vor in ihrem Heimatort zu einem „Fleischer meines Vertrauens“ – einer konventionellen Metzgerei. Der Grund: „Ich will die deutsche Landwirtschaft unterstützen.“ Hilke Meyer hofft, dass sich die Lage auf dem Fleischmarkt bald normalisiert. „Man darf die Verbraucher nicht für dumm verkaufen, aber auch keine Hysterie entfachen.“
Von Hysterie ist auf der Grünen Woche nichts zu spüren. Im Gegenteil. Auf Europas größter Fressmesse wird auch zu Zeiten von BSE gegessen, was das Zeug hält. Keine Rede davon, was die Centrale Marketing-Gesellschaft der Deutschen Agrarwirtschaft im Editorial ihrer Sonderausgabe „Fakten zu BSE“ schreibt. Da heißt es: „Drei Buchstaben elektrisieren die deutsche Öffentlichkeit seit mehreren Wochen: BSE. Der Schock in der Bevölkerung sitzt tief.“ Am Samstag kamen mit über 57.000 Besuchern fast genau so viele Besucher ins Messezentrum am Funkturm wie in den vergangenen Jahren.
Im Vordergrund steht für die Verbraucher dabei nicht die Suche nach Informationen zur Beruhigung von Magen und Hirn, sondern die Suche nach Schnäppchen – mit oder ohne Rindfleisch. Während am Stand des Bundesministeriums für Verbraucherschutz mit seinen Broschüren zum Tierschutzgesetz und zur Vielfalt des Waldes gähnende Leere herrscht und auch die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rinderzüchter eine ruhige Kugel schiebt, erfreuen sich die Fleisch- und Wursterzeuger großer Beliebtheit. Die ist so groß, dass der Eindruck entsteht, die Besucher hätten monatelang nichts Kräftiges zwischen die Zähne gekriegt und die eigens angefertigten „wichtigen Verbraucherinformationen“ seien besser im Fleischwolf als an der Theke aufgehoben.
Am Stand der Firma „Drebacher“, „Fleischwaren-Spezialitäten aus dem Erzgebirge“, verdecken Aushänge die zahlreichen Gebirgs- und Knoblauchsalami mit Schwein und Rind. Darauf steht, dass Wurst Vertrauenssache ist und „bei der Herstellung unserer Produkte und den von uns vertriebenen Produkten keine Risikomaterialien und kein Separatorenfleisch vom Rind verwendet wird“. Doch Geschäftsführer Burkhard Gropp hat festgestellt: „BSE ist hier so gut wie gar kein Thema.“ Vielen Besuchern gefalle „das Gefühl von Normalität“. Aus der Reihe tanzten nur einige Hauptstädter. „Einige freche Berliner fragten, ‚Was habt Ihr da reingewürgt?“, erzählt Gropp. „Aber das sind zwei von tausend Besuchern.“
Viele Besucher, die in den vergangenen Wochen alles Kleingedruckte auf Wurst- und Fleischverpackungen studiert haben, legen auf der Grünen Woche eine Unbeschwertheit an den Tag, die überrascht. Ein 72-jähriger Hannoveraner, der „schon ewig“ kein Rindfleisch mehr isst, gesteht, zwei Würstchen zu sich genommen zu haben, „ohne zu fragen, was drin ist“. Die Erklärung liefert er selbst: „Ich habe nicht gefragt, weil so viel Andrang war.“
Während in den meisten Hallen ein Gedränge wie beim Viehauftrieb herrscht, ist die Bewegungsfreiheit in der Biohalle sehr angenehm. Die längsten Schlangen finden sich nicht bei Eis aus Biomilch, makrobiologischer Kost oder Frischobst, sondern bei „Spezialitäten aus der Toskana“ wie Parma- und Pferdeschinken oder Wildschweinsalami. Das handgeschriebene Schild „Alle Produkte sind aus rein biologischer Herstellung“ fällt weniger ins Auge als ein ausgestopfter Wildschweinkopf. Eine Verkäuferin, die kaum mit dem Wiegen nachkommt, erzählt von „einigen wenigen, die bewusst provozierend nachfragen“. Da kann sie nur mit dem Kopf schütteln. „Schon vor der jetzigen Diskussion haben wir biologisch produziert“, sagt sie. Wer partout auf Etiketten auf der Wurstpelle besteht, dem rät sie, sich per Fax an die Firma zu wenden.
Einige Anbieter von biologischer Pasta, Wein und Obst aus der Nähe von Verona sind hingegen enttäuscht. Zum einen, weil sie mit mehr Händlern gerechnet haben und zum anderen, weil nicht alle Stände in der Biohalle wirklich Bio seien. „Hier steht nicht die Qualität an erster Stelle“, klagt eine Italienerin. Sie meint Produkte wie russischen Wodka – obwohl eine russische Verkäuferin schwört, es handele sich um „Biokorn“ und „Biospiritus“ –, Zigarren aus der Dominikanischen Republik oder afrikanisches Palmenbier. Ein 80-jähriger Berliner, der sich das weiße Gebräu aus einer Kokosnussschale schmecken lässt, interessiert sich für die Biohalle nur am Rande. „Das ist doch alles nur Geschäftemacherei“, schimpft er. Denn: „Ich denke immer an den sauren Regen. Haben die Bauern denn Regenschirme aufgespannt?“
Hans Schmid, der seit einigen Jahren ein vegetarisch-vegan-makrobiotisches Naturkostrestaurant in Berlin betreibt, zuckt mit den Schultern. „Ich habe das Gefühl, die Leute wollen nichts ändern“, sagt er. „Ob Fleisch gesund ist oder nicht, interessiert niemanden.“ Eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten brauche Zeit und sei „eine Bewusstseinssache“. Donka Lorenz, die in der Biohalle auf der Suche nach Tofuanbietern ist, hat schon vor drei Jahren ihre Ernährung umgestellt. Jedoch nicht ganz freiwillig. „Aus gesundheitlichen Gründen lebe ich nach einer streng makrobiologischen Diät“, erzählt die 47-Jährige. „Ich bin sehr davon angetan“. Seitdem gehe es ihr gesundheitlich besser, ihre Vitalität sei gestiegen und selbst die Haut sei schöner geworden. Fleischessern empfielt sie „einen schrittweisen Rückgang“.
Dicht umlagert sind bei der diesjährigen Messe auch die, denen es neben einigen Ministern an den Kragen gehen soll: die Rinder. Ob „Bounty“ und „Terrie“ mit ihren Kälbern aus Brandenburg, „Anastasia“ und „Bonita“ aus Holstein oder die namenlosen „Pinzgauer“ aus Österreich – die Fachaussteller freuen sich über die vielen Videokameras, die von wohl gesinnten Verbrauchern auf die Tiere gehalten werden. „BSE wird irgendwie mächtig hochgespielt“, sagt ein Mann aus Brandenburg, während er einer Kuh den Hintern tätschelt. „Ich mache mir da keinen Kopf.“ Anfangs sei er „mit der Wurst vorsichtig“ gewesen. Doch „gutes Rindfleisch für Rouladen“ kaufe seine Frau bei einem Fleischer, bei dem er davon ausgehe, dass dessen Ware in Ordnung ist.
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