: Zahlen muss man für die Uni immer
Studiengebühren haben die Hochschulen der Ukraine in eine Zweiklassengesellschaft verwandelt. Die Kinder der neuen Nomenklatura studieren Jura und Management. Die Jungs aus der Provinz versuchen, die Prüfungstorturen zu überstehen
aus Kiew GABRIELE LESSER
Die größte Universität der Ukraine, die Taras Tschewtschenko-Universität in Kiew, leuchtet blutrot in der Wintersonne, vor dem Eingang ein Soldat in Habt-Acht-Stellung. Es ist Examenszeit. Der massive Bau, die Farbe, der Soldat wirken einschüchternd. Die gerade noch so lustigen Studenten gehen schweigend am Soldaten vorbei und steigen die Marmortreppen zu den Hörsälen hinauf. Nach der ersten Biegung verwandelt sich der Prachtflur abrupt in einen Korridor mit ausgetretenem Parkett, beleuchtet von einer kleinen Funzel.
Auf dem Fenstersims vor dem Vorlesungssaal sitzt Lena und flüstert mit abwesendem Blick vor sich hin. Sie sieht auf die Uhr, der Prüfer kommt und kommt nicht. Entnervt klappt sie schließlich das Schulheft zu. „Jetzt lerne ich sowieso nichts mehr“, sagt sie und zuckt die Schultern. Lena studiert Jura. In einem Jahr wird sie das Studium abschließen. Sie gehört zu den privilegierten Studierenden, deren Eltern sich die hohen Studiengebühren an der prestigeträchtigen Tschewtschneko-Universität leisten können. Die Zwanzigjährige strahlt Optimismus aus. Sie sagt: „Meine Zukunft ist gesichert. Ich studiere Immobilienrecht, ein völlig neuer Studiengang. Meine Kommilitonen und ich, wir werden die ersten ukrainischen Spezialisten auf diesem Sektor sein.“
1996, als sie nach Abschluss der Schule nach zehn Jahren und mit gerade mal 16 Jahren eine Entscheidung über die Studienrichtung treffen sollte, hatte sie sich auf ihren Vater verlassen. „Er ist Direktor der Bank Ukraina“, erklärt sie. „Er wusste schon damals, dass bei der anstehenden Privatisierung in der Ukraine Juristen gebraucht werden.“
Auch die anderen Studierenden an der Tschewtschenko-Uni sind Kinder der ukrainischen Finanzelite. Die Tschewtschenko-Universität zählt zu den renommiertesten im Lande und nimmt die höchsten Studiengebühren unter den staatlichen Hochschulen, obwohl das Studium für mindestens die Hälfte der Studierenden kostenlos sein sollte. Doch daran hält sich kaum eine Hochschule. Lena zahlt pro Semester 4.000 Griwna, was umgerechnet rund 1.600 Mark entspricht. Normalverdiener kommen auf rund 70 bis 80 Mark monatlich.
Ein paar Metrostationen weiter steigen die künftigen Ingenieure und Techniker aus. Das Kiewer Polytechnikum ist auf einem Hügel in einem hässlichen Betonklotz untergebracht. Die Decken hängen so tief, dass Studenten und Professoren mit eingezogenem Kopf durch das Gebäude eilen. Es ist Samstag, 12 Uhr, und Sascha, Maxim, Jurij und Sergej packen Hefte und Bücher zusammen. Sie sind froh, dass „die Schule aus ist“. Das Polytechnikum hat keinen Universitätsstatus. Die angehenden Maschinenbauer wollen im Studentenwohnheim gemeinsam kochen. Sascha lacht: „Kartoffeln mit Speck! Ohne unser ‚Nationalgericht‘ könnte hier keiner von uns überleben.“
Anders als an der Tschewtschenko-Universität, wo die Kinder der alten und der neuen Nomenklatura studieren, sind am Kiewer Polytechnikum vor allem die „Jungs aus der Provinz“ eingeschrieben. Sascha ist der wachste von allen; mit seinem schwarzen Haar und dem elegant um den Hals geworfenen weißen Schal wirkt er wie ein junger Casanova. „Es wird gerade gesiebt“, ruft er übermütig in die Runde. „Die meisten von uns zahlen ja nichts für das Studium, da wird eben auf Herz und Nieren geprüft.“
Die drei anderen nicken ernst. Sie haben das erste Studienjahr gerade hinter sich gebracht. Jurij meint finster: „Ich werde es wohl nicht schaffen. Es sind so viele Hausaufgaben.“ Auch Maxim, der die Schule mit einer „Silbermedaille“ abgeschlossen hat und daher keine Aufnahmeprüfung zu machen brauchte, stöhnt: „Die anderen hatten ein Vorbereitungsprogramm. Ich muss das jetzt alles nachholen.“ Er klagt über das harte Studentenleben: „Ich gehe zur Schule, sitze dort sechs Stunden in den Vorlesungen, komme zurück, esse etwas, lese, und dann falle ich erschöpft ins Bett. So geht das jeden Tag.“
Sergej aus dem 700 km entfernten Donezbecken setzt bedächtig hinzu: „Wer nicht gut lernt, muss zur Armee. Und das war’s dann. Nach der Armee studiert niemand mehr.“ Die Examen sind fast alle mündlich. Geprüft wird der Stoff aus den Vorlesungen. Auch nach der Hochschulreform Mitte der 90er-Jahre, die ein eigenständiges Lernen der Studenten zum Ziel hatte, pflegen die Professoren den Lehrstoff zu diktieren. Da das Einkommen der Hochschullehrer nicht wesentlich über dem Durchschittseinkommen der Ukrainer liegt, ist es üblich, „Nachhilfe“ zu geben.
Von außen wirkt die Ukraine oft wie ein schwerfälliger Koloss. Den Studenten am Polytechnikum geht der Wandel viel zu schnell. Sie haben Angst vor der Zukunft. Sergej ist sich fast sicher, dass er niemals den Beruf ausüben wird, den er jetzt so mühsam erlernt. „Da, wo ich herkommen, braucht niemand einen Maschinenbauer. Aber eine Hochschulausbildung ist in jedem Falle gut.“ Überall in der Provinz greift die Arbeitslosigkeit um sich. Die 18- bis 19-Jährigen wissen schon heute, dass sie nach dem Studienabschluss in eines der großen Industriezentren ziehen müssen – und die Pflicht haben, ihre Familien auf dem Land zu unterstützen. Sascha fängt sich als erster: „Erst mal schließen wir unser Studium ab!“, ruft er aufmunternd in die Runde. Und dann, mit einem Seitenblick auf seinen Nachbarn, setzt er tröstend hinzu: „Und wenn du es nicht packst, dann legen wir eben zusammen und kaufen dir die Prüfung!“ Zwei Monatslöhne mindestens wird das kosten. Für eine gute Note muss man noch einmal drauflegen.
Tatiana hat die Universität schon hinter sich. Als sie von Lena und den vier Maschinenbaustudenten hört, sagt sie: „Zahlen muss man immer, egal, an welcher Universität man studiert, egal, ob privat oder staatlich.“ Die Ukraine sei arm. Der Staat zahle miserable Gehälter, oft mit monatelanger Verspätung, sodass jeder gezwungen sei, irgendwie dazuzuverdienen: „Man kann in der Ukraine alles kaufen – auch Prüfungen, gute Noten, schöne Zeugnisse. Alles.“ Da das aber jeder wisse, seien Abschlusszeugnisse nicht übermäßig wichtig. Es zählt nur, was jemand kann.
Die 24-Jährige, die seit einem Jahr ein Drei-Sterne-Hotel in Kiew leitet, hatte 1993 eines der ersten Amerikastipendien ergattert, die es nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine plötzlich gab. Nach ihrer Rückkehr studierte sie an einer der ersten privaten Hochschulen in der Ukraine. „Ich wollte Managerin werden und suchte ein Studium, das es mir erlauben würde, überall auf der Welt zu arbeiten.“ Tatiana spielt mit ihrem Handy und lacht: „Jetzt arbeite ich als Ukrainerin in der Ukraine und baue hier westliches Management auf.“
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