finkelsteins propaganda: Aus dem Arsenal der Big Conspiracy
„Nich mal ignorieren“, so lautet im Berliner Dialekt der Ratschlag, wenn man sich auf keinen Fall an einer Diskussion beteiligen will, weil deren Ergebnis nur sein kann, einem irrelevanten Diskussionsgegenstand überhaupt erst zur öffentlichen Beachtung zu verhelfen. Es ist diese Taktik, die eine Reihe wohlmeinender Zeitgenossen anlässlich des Erscheinens der deutschen Ausgabe von Norman Finkelsteins „The Holocaust Industry“ vorschlagen. Aber diese Taktik ist falsch.
Kommentarvon CHRISTIAN SEMLER
Zugegeben, es ist nicht ganz einfach, Finkelstein ernst zu nehmen. Seine Konstruktion der „Holocaust-Industrie“ verrät die Herkunft aus dem Arsenal der Big Conspiracy. Und die ständige Beschwörung des Leidens seiner Eltern, für deren Andenken er streitet, mutet selbst den gutwilligsten Zuhörer peinlich an. Aber es geht bei Finkelstein auch um Fakten: erstens um die Behauptung, die Jewish Claims Conference (JCC) habe in den 50er-Jahren Zahlungen der Bundesrepublik zweckentfremdet, zweitens um die These, die Zahl der noch lebenden jüdischen Opfer der Zwangsarbeit sei von der Jewish Claims Conference viel zu hoch angesetzt, um mehr Geld (für eigene Zwecke) herauszuschlagen.
Da hier die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht, hat die JCC zu den Vorwürfen nicht geschwiegen. Sie stellt ihre aktualisierten Listen von Überlebenden der Holocaust-Sklavenarbeit der Einsicht zur Verfügung. Die Wiedergutmachungsakten der 50er-Jahre sind publiziert. Öffentliche Aufklärung ist möglich – und nötig. Sonst gedeiht die Verdachtspsychologie, und das Geschäft der Rechten blüht.
Umstandslos hingegen kann Finkelsteins gestern wieder in Berlin geäußerte Meinung zurückgewiesen werden, die Bundesrepublik habe in der Vergangenheit korrekt entschädigt und sich durch den „Holocaust-Racket“ zur anstehenden Entschädigung der ehemaligen jüdischen Sklavenarbeiter erpressen lassen.
Lassen wir die Frage unerörtert, in welchem Umfang die Abkommen der 50er-Jahre wirklich jüdische Sklavenarbeit einbegriffen. Sie begründeten auf alle Fälle keine individuellen Ansprüche. Ohne den massiven politischen Druck auf die deutschen Firmen mit Niederlassungen in den USA wäre es nie und nimmer zur Zwangsarbeiterstiftung gekommen. Politische Erpressung? Na klar. Wenn anders Gerechtigkeit nicht durchsetzbar ist. Für diese Erpressung braucht sich Norman Finkelstein nicht zu schämen.
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