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Neue Proteste gegen Kutschma

Der ukrainische Präsident gerät wegen der Affäre um die Ermordung des regimekritischen Journalisten Gongadse unter Druck und feuert den Geheimdienstchef. Tonbänder über die angeblichen Hintergründe der Tat sorgen weiter für Aufregung

von BARBARA OERTEL

Die Affäre um den verschwundenen und wahrscheinlich getöteten Journalisten Georgi Gongadse, die die Ukraine seit Monaten in Atem hält, fordert weitere Opfer. Am Wochenende entließ Präsident Leonid Kutschma seinen Geheimdienstchef Leonid Derkatsch. Zuvor hatte er nach einer Sitzung des Sicherheitsrates auch den Kommandeur der Nationalgarde, Wladimir Schepel, aufs Altenteil geschickt.

Bereits am vergangenen Dienstag waren in Kiew rund 10.000 Menschen aus allen Teilen des Landes für eine „Ukraine ohne Kutschma“ auf die Straße gegangen. Die Demonstranten legten für mehrere Stunden den Verkehr im Zentrum lahm und verbrannten Kutschma-Porträts und eine Riesenpuppe in Gefängniskluft. Auch gestern wurde wieder protestiert.

Auslöser der Bewegung ist das Verschwinden des regimekritische Journalisten Georgi Gongadse am 16. September vergangenen Jahres. Knapp zwei Monate später wurde 150 Kilometer von Kiew entfernt eine Leiche ohne Kopf gefunden, bei der es sich aufgerund von DNA-Analysen mit 99,6-prozentiger Sicherheit um Gongadse handelt. Ebenfalls im November machte der Sozialist und Gegenspieler Kutschmas, Alexander Moros, der Öffentlichkeit Tonbänder zugänglich, die, von einem Ex-Leibwächter des Präsidenten heimlich aufgenommen, die Beteiligung Kutschmas, des Geheimdienstchefs Derkatsch sowie des Innenministers am Fall Gongadse dokumentieren sollen.

Das Verwirrspiel um die Tonbänder explosiven Inhalts hält an. In der vergangenen Woche hatte die Staatsanwaltschaft erstmals die Authentizität der Aufnahmen bestätigt, jedoch von einem künstlichen Zusammenschneiden der Wortpassagen gesprochen. Zuvor hatte es stets geheißen, die Bänder seien ein Fake und es sei technisch unmöglich, Gespräche in Kutschmas Büros mitzuschneiden. Ebenfalls in der vergangenen Woche meldeten sich mit Taras Chornovil und Alexander Turchynow zwei Juristen zu Wort, die angaben, ihre Stimmen auf den Bändern eindeutig erkannt zu haben.

Der Chef der Staatsanwaltschaft, Michail Potebenko, suchte derweil erst einmal das Weite. In der vergangenen Woche wurde bekannt, Potebenko werde sich im Westen der Ukraine sechs Wochen lang mit Massagen und Unterwassentherapie behandeln lassen. Insider sehen darin einen Hinweis darauf, dass Potebenko bald von berufener Stelle der Rücktritt nahe gelegt werden dürfte oder er selbst den Bettel hinschmeißt.

Vielleicht hat seine Abwesenheit aber auch noch einen anderen Grund: Für den kommenden Dienstag werden der Repräsentant für eine gemeinsame EU-Außenpolitik, Javier Solana, und der Außenkommissar der EU, Christopher Patten, in Kiew zu Gesprächen erwartet. In einer Erklärung von vergangener Woche hatte die EU noch einmal ihre Unterstützung für Bemühungen des Europarates, die so genannten Gongadse-Bänder von unabhängigen Experten analysieren zu lassen, zu Protokoll gegeben.

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