: Unüberschaubare Generationenlage
Der Streit um Joschka Fischer wird zur Generationendebatte hochstilisiert. Doch warum, für wen? Am Ende fühlen sich nette Aufsteigergrüne und andere Streber noch bemüßigt, ihre Durchschnittsbiografien als Generationenphänomen darzustellen
von ULRIKE WINKELMANN
„Ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“
(J. W. v. Goethe,
Dichtung und Wahrheit)
Wer hat eigentlich die These in die Welt gesetzt, wonach junge Menschen das Bedürfnis haben, sich von einer so genannten 68er-Generation abzusetzen? Ist das schon einmal empirisch überprüft worden? Hallo! Hat hier irgendjemand das Bedürfnis, sich von einer so genannten 68er-Generation abzusetzen?
Der Streit um Joschka Fischers Vergangenheit wurde von seinem Beginn im Januar an mit dem Allzweckargument der Zeitzeugenschaft geführt: Nur wer dabei war, kann verstehen, was die da eigentlich trieben, 1968 und danach.
Ganz logisch ist es daher, wenn auf der Suche nach dem Neuen in der alten 68er-Debatte auch der Generationenschnack wieder auftaucht. So wurden die Attacken der Springerpresse, insbesondere der Welt, auf Joschka Fischer als Gewaltnichtverächter vom „Dossier“ der Zeit etwa folgendermaßen interpretiert: Eine Horde Jungspunde in Nadelstreifen, kaum über 30 und alle vom Hass auf die 68er-Generation bewegt oder bewogen, will mindestens den Außenminister aus dem Amt hebeln, wenn nicht gar Rot-Grün stürzen.
Die Antwort einiger der Gemeinten folgte auf der Leserbriefseite: Sie hätten durchaus je eigene Motive, ihrem Job nachzugehen. Eine besondere Abneigung gegen 68er sei nicht dabei. Die Unterzeichneten waren mitnichten alle um die 30.
Diese schöne öffentliche Form von Rede und Gegenrede innerhalb der Diskussion um Militanz, PLO-Kongresse und dergleichen wirft ein grundsätzliches Problem auf: All die Generationen (78, 89, X, @, Golf usw.), wie sie seit Jahren gerne getauft und mit einer psychosozialen Kollektivität versehen werden, erkennen sich selbst kaum in solchen Beschreibungen wieder. Das liegt an der Doppelgesichtigkeit des Begriffs selbst: Wer von Generationen redet, gar eine ausruft oder noch schlimmer: andere Leute einer Generation zuordnet, vereinnahmt einen ganzen Haufen Menschen für sich, seine Idee, unter Umständen eine Utopie.
Auf der Publikumsseite hat das regelmäßig Abstoßung zur Folge: Wer will sich schon in die Entwürfe eines anderen einordnen, womöglich zum Erfüllungsgehilfen irgendeiner wirren Generationenaufgabe machen lassen?
Ausnahmen gibt es dann, wenn Autorenschaft und Rezeption zusammenfallen, wenn also die Möglichkeit besteht, zum eigenen Ruhm am Generationenbild mitzustricken. Publikumslieblinge sind hier nach wie vor ein paar Dutzend Akademiker, im Folgenden ohne Gänsefüßchen 68er genannt, aber in jüngerer Zeit auch die Bewegung zur ästhetischen Aufarbeitung der 80er-Jahre, die in Florian Illies einen Dokumentator fand (der politische Teil seines Buches „Generation Golf“ wird zu Recht vernachlässigt). Doch diese beiden publizistischen Erfolgsgeschichten fechten die Regel nicht an: Eingemeindung findet freiwillig-individuell statt oder gar nicht.
Solche Widersprüche im Generationenbegriff haben jedoch nicht zur Folge, dass er mit etwas mehr Vorsicht angewandt wird. Im Gegenteil. Die Diskussion um Joschka Fischers und anderer Leute Vergangenheit wird in weiten Teilen so geführt, als handele es sich dabei um einen Generationenkonflikt. Plötzlich werden alle zu Sprachrohren einer Generation. Nette Aufsteigergrüne und andere Streber unter vierzig fühlen sich plötzlich bemüßigt, ihre Durchschnittsbiografien als Generationenphänomen darzustellen, während die älteren Herrschaften ihre Memoiren in Feuilletons veröffentlichen: Seht her, so waren wir alle, so war, um mit dem ersten Generationssoziologen Karl Mannheim zu sprechen, die Generationenlage.
In solchen soziologischen Kategorien gesehen, verschärft sich der geschilderte Widerspruch von Vereinnahmung und Abgrenzung zusätzlich: Die Zugehörigkeit zu einer Generation verweist nach Mannheim erstens auf die unwandelbare Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte und zweitens auf ein „Identisch-Bestimmtsein“, weil geteilte Erlebnisse eine geteilte Sicht auf die Welt bedingen. Eine Generation ist demnach eine Zwangsgemeinschaft, die nicht anders kann, als sich den Vorgaben eines Generationskerns, in der Regel Literaten, anzuschließen, die den „Generationsstil“ prägen.
Nun lässt sich angesichts der Generationenschwemme der jüngsten Jahre durchaus argumentieren, dass der Begriff der Generation eben von seiner soziologischen Bedeutung – nämlich der Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte – losgelöst sei und eigentlich nur die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von ähnlich Denkenden und Lebenden meine, so wie etwa der Begriff „tribe“ („Stamm“), „Szene“ oder, für die gehobenen Sphären, „Schule“. In der Literaturgeschichte ist der Begriff früher so verwendet worden: Hier zählte nicht die biologische, sondern die literarische Geburt, also die erste Veröffentlichung, die sich einer bestimmten „Strömung“ zurechnen ließ.
Mit einem derartigen Rückgriff auf die vorsoziologische Definition wäre das Identifikationsproblem zwar gelöst, da die Zwangseingemeindung durch freiwillige Teilnahme ersetzt würde. Doch gleichzeitig würde die Sicht auf die Mechanismen, die mit dem Begriff in Gang gesetzt werden, verdeckt. Denn gerade die Unausweichlichkeit macht den Zauber des Generationenbegriffs ja aus: Du bist 1971 geboren, also teilst du einen Löwenanteil der Erfahrungen aller 1971 Geborenen: Scout-Tornister zur Einschulung, Terroristen-Suchplakate bei Edeka (von Mama erläutert), die ersten Skateboards, Karottenhosen . . ., der Rest lässt sich in einschlägigen Datenbanken (z. B. www.achtziger.de) oder bei Florian Illies nachlesen. Inmitten von Wahlverwandtschaften, Wahlnationalitäten und Wahlidentitäten überhaupt ist die Generation der Parameter des Schicksals. Seine Schicksalhaftigkeit macht den Generationenbegriff so mythentauglich; das erklärt, warum unter seiner Flagge alle möglichen anderen, weniger mythisierbaren Konflikte ausgetragen werden. Da wäre zum Ersten ein Exmythos, reichlich entweiht durch die Hobby- und Alltagspsychoanalyse: Ödipus.
Nicht umsonst haben wir es in so genannten Generationendebatten fast ausschließlich mit Männern zu tun. Je einzeln müssen die Jünglinge ihre geistigen Väter ermorden, um den Thron der Deutungshoheit zu erklimmen. Bettina Röhl ist als wichtige Frau im Getümmel eine denkwürdige Ausnahme; ihr Fall bedürfte jedoch gerade deshalb (und weil er zu ernst ist, um der verallgemeinernden Flockigkeit des Feuilletons zu gehorchen) eines eigenen Kapitels.
Der Nachteil einer Verhaltensdeutung à la Freud ist freilich, dass sie ebenso nahe liegend wie unergiebig ist, wenn es um ganz materielle Interessen geht: so zum Beispiel um den Umstand, dass die 68er auf allen Posten sitzen, die die Jüngeren auch gerne hätten. Heinz Bude zuletzt hat notiert, dass nur die 68er selbst vom seit Kriegsende verschleppten Modernisierungsschub Westdeutschlands profitieren durften: Die Anzahl etwa der im öffentlichen Dienst Beschäftigten wuchs von 1965 bis 1975 um ein Drittel – danach nicht mehr. Pech für die später Geborenen: Von der Möglichkeit, den Wohlfahrtsstaat mit aufzubauen, dürfen sie seither nur in der zweiten Reihe sitzend profitieren – oder gar nicht. Punk, das Datum 1977, wie neulich Diedrich Diederichsen in der SZ schrieb, war Nachklapp und Gegenstück zu 68, nicht mythentauglich, nicht optimistisch, die dunkle Seite gleichsam der verstetigten bürgerlichen Revolution. Was nicht zuletzt, das bleibt auch von Diederichsen unerwähnt, mit Jugendarbeitslosigkeit zu tun hatte.
Doch es wäre unfair, jeden Versuch, der 68er-Generation am Zeug zu flicken, als schieren Positionsneid auszulegen. Es geht immerhin und anerkanntermaßen auch um Politik. Und hier müsste doch gerade der Umstand, dass es jüngere und ältere Politiker und Journalisten sind, die sich an der Vergangenheit eines Joschka Fischer abarbeiten, zu anderen Erkenntnissen führen, als dass es sich um ein Generationending handle. Zum Beispiel folgenden:
Erstens könnte es sein, dass es den Konservativen tatsächlich ein Herzensanliegen ist, nachzuweisen, dass eine militante Vergangenheit eine Persönlichkeit auch zwanzig, dreißig Jahre später noch nachteilig prägt. Das würde bedeuten, dass bei Springer und der CDU nicht nur verpickelte Karriereautomaten mit dem strategischen Ziel am Werk sind, Rot-Grün zu kippen und so ihren Neid auf das ausschweifende Leben der Linken auszutoben, sondern Leute, die die immerhin nicht gänzlich abwegige Überzeugung haben, dass dem Staat sein Gewaltmonopol zustehe.
Zweitens haben Militanz und Linksradikalismus immer noch ihre Nischen, und die Vorbereitungen für die Castor-Transporte beweisen, dass die Nischenbevölkerung imstande ist, die Öffentlichkeit für sich zu interessieren. Daraus folgt, drittens, dass die – allerdings bisweilen komischen – Zusammenhänge zwischen einer radikalen Rhetorik, einer militanten Praxis und einem aufklärerischen Menschenbild keineswegs nur in den rätselhaften Verschlingungen der außenministerlichen Biografie zu finden und dort zu belassen sind. Vielmehr eignen sie sich hervorragend, um aktuell über Möglichkeiten und Mittel einer Weltanschauung zu reden, die sich jederzeit auf die Seite der Schwächeren zu stellen versucht. Auch dann, wenn die Lage nicht immer so überschaubar ist, dass Täter- und Opferschaft, Macht und Ohnmacht eindeutig zuzuordnen wären. Das macht den Job eben schwieriger.
Wer das alles mit dem Klischee der politischen 68er-Generation auf der einen und der unpolitischen Generation Golf auf der anderen Seite zukleistert, tut niemandem einen Gefallen, außer denen, die hoffen, mit dem Stichwort „Generation“ lasse sich eine Diskussion aufhübschen. Wahrscheinlich aber will sich überhaupt niemand abgrenzen. Wahrscheinlich wird einfach gerade neu verhandelt, was rechts und was links ist. Wahrscheinlich hat das mit Generationen nur insoweit zu tun, als der Kreis der Teilnehmer sich erweitert hat. Ein wenig.
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