: Viele Russen und nur wenig Junge
In der Jüdischen Gemeinde wurde gestern gewählt. Vor den Wahlkabinen herrschte viel Unsicherheit über die Zukunft
Es ist alles so unnormal wie immer. Vor der Tür der übliche Wasserwerfer, neben der Synagoge an der Oranienburger Straße stehen Polizisten, und wer hineingeht, wird gefilzt wie am Flughafen. Alles Metallene in den Taschen muss abgegeben werden. Wie immer. Eines aber ist anders als sonst: Wer einen gelben Schein vorweist, kommt schneller durch. Das Papier zeigt, dass man berechtigt ist, seine Stimme hier abzugeben. Es ist Wahltag in der Jüdischen Gemeinde.
Nach vier Jahren sind rund 12.000 Gemeindemitglieder wieder dazu aufgerufen, ihre Repräsentantenversammlung, das Gemeindeparlament, zu wählen. Sie haben die Wahl zwischen 61 Kandidaten. Dass unter ihnen die neuen Mitglieder der Gemeinde, russischsprachige Zuwanderer aus den früheren Staaten der untergegangenen Sowjetunion, immer wichtiger werden, sieht man allein daran, dass alle Wahlunterlagen zusätzlich ins Russische übersetzt wurden: Etwa drei Viertel der mehr als 9.500 Wahlberechtigten sind ehemalige Sowjetbürger, so wird im Wahlbüro geschätzt. Sie haben seit Anfang der Neunziger Jahre die Zahl der Gemeindemitglieder etwa verdreifacht und das jüdische Leben in der Hauptstadt zu neuer Blüte geführt.
Einer der so genannten Russen ist Jan Belenkij (69), Professor der technischen Kybernetik und der Theorie der Informatik aus dem ukrainischen Lemberg. Er hat gerade gewählt – wen, will er nicht sagen. Seit sechs Jahren ist der Wissenschaftler in Berlin. Die wichtigste Aufgabe der neuen Repräsentanten, so betont er, sei die Integration der russischsprachigen Zuwanderer. Er verweist darauf, dass ein Drittel der Kandidaten aus dieser Gruppe komme. Er begrüße es, dass sich alle um ein Thema kümmern wollen, das auch ihn umtreibt: Er bekommt trotz seiner jahrzehntelangen Arbeit für die „europäische Wissenschaft“, wie er sagt, keine Pension, sondern muss von Sozialhilfe leben.
Neben dieser Integrationsaufgabe sieht eine 42-jährige Krankenschwester ein anderes Problem der Gemeinde: Das Interesse der Jugend an der Religion werde immer geringer, klagt sie. Im Vergleich zur Zeit vor 20 Jahren engagierten sich immer weniger Jugendliche – wer aber führe die alten jüdischen Traditionen fort? Vielleicht hilft ja, dass der derzeitige Gemeindevorsitzende Andreas Nachama seit vergangenem Jahr auch Rabbiner ist. Auch seinem Hauptkonkurrenten Moische Waks liegt das religiöse Wissen am Herzen – aber er hat voraussichtlich kaum Chancen. Für die 42-jährige steht jedenfalls fest: „Andreas“, wie sie sagt, sollte am 2. Mai wieder auf seinen Posten kommen. Dann wird aus dem Kreis der Repräsentanten der Vorstand und aus ihm der Vorsitzende der Gemeinde gewählt.
Worum er sich vor allem wird kümmern müssen, verdeutlicht Rinah Jerman. Die 18-jährige Abiturientin ist eine der wenigen jungen Gemeindemitglieder, die vor den Wahlkabinen anstehen. Sie macht sich Sorgen, dass immer weniger junge Leute in die Synagoge gingen – zu den Gottesdiensten am Fraenkelufer etwa kämen fast nur noch Alte: Wie soll das weitergehen, fragt sie, wenn die sterben? Das neue jüdische Leben in der Stadt, das zeigen die Wahlen, ist zerbrechlich – und normal ist es noch lange nicht. PHILIPP GESSLER
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