: Kleine Fluchten
Die Westcousins hießen Hardy, Elvis und Blacky, Gemma war 13 und wollte raus: „Traumschustern“, Barbara Boys Erinnerungen an damals, an die Kindheit in der DDR
Wie viele Menschen sind aus der DDR geflohen? Den Gedanken daran hatten wohl alle einmal, die nicht hundertprozentig an den staatlich verordneten Sozialismus glaubten. Mein Onkel Uwe hat es zweimal versucht. Er landete im Gefängnis, aber nur kurz, weil sein Vater gute Parteiverbindungen hatte. Eigentlich wäre es ein interessantes Projekt, nicht nur die gelungenen Fluchten zu dokumentieren (wie es das Berliner Museum am Checkpoint Charlie seit Jahrzehnten betreibt), sondern die vielen Pläne zusammenzutragen, die nie verwirklicht wurden. Sie hatten vielleicht sogar einen psychologischen Effekt: Viele Leute blieben da, weil sie sich mit ihren Träumen beruhigten, allein der Plan schon eine Flucht, nämlich aus der Realität, bedeutete.
Den Entschluss, zu fliehen, fasst Gemma 1961, als die SED-Genossen die Grenze errichten. Sie ist dreizehn Jahre alt und lebt auf dem Dorf irgendwo im Osten. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Christa schmiedet sie Pläne, wie sie zusammen aus der Enge in den Westen fliehen können.
Der Mauerbau teilt Barbara Boys autobiografischen Roman „Traumschustern“ in zwei Teile. Im ersten Teil erzählt sie von ihrer beschwerlichen Kindheit in der DDR, was manchmal sogar ganz lustig ist. Gemma wächst mit Großeltern und Eltern in ärmlichen Nachkriegsverhältnissen auf. Zu essen gibt es meist Zwiebelsuppe, selten Kartoffeln und Fleisch nur, als der hackende Hahn dran glauben muss. Die Großmutter ersetzt die lieblose Mutter, die noch im Krieg einen toten Sohn zur Welt brachte und die Tochter am liebsten als Jungen aufziehen würde. Und Gemma legt auf Anraten der Großmutter kleine Geschenke aufs Fensterbrett des Elternschlafzimmers, damit der Klapperstorch einen kleinen Bruder bringt. Bis ins kleinste Detail erinnert sich Boy an ihre Kindheit. Ihr Gedächtnis ist so gut, dass sich manche Stellen wie ein Wörterbuch der bäuerlichen Sprache lesen: Zwiebeln heißen da „Zippeln“, ein „spacker Hecht“ ist ein dünner junger Mann, und „Eingebrocktes“ sind Brotbrocken in heißem Malzkaffee, mit Zucker bestreut.
Erinnerungen: Fast hätte man vergessen, wie sehr die staatliche Politik in das Leben der kleinen Leute eingriff und allen Regeln der Logik widersprach. Der Vater musste im Krieg der NSDAP beitreten, um Lehrer werden zu können. Deswegen darf er jetzt nur als Anstreicher im Kraftwerk arbeiten. Mit dem Eintritt in die SED darf er dann wieder unterrichten. Gemma glaubt an den lieben Gott, doch als sie erfährt, dass das ihrem Papa beruflich schaden könnte, beschließt sie, nicht mehr in die Kirche zu gehen. Sehr komisch sind die Besuche bei den Westverwandten vor 1961; die Westcousins heißen Hardy, Elvis und Blacky. Gemma ist superstolz, dass sie heimlich im Westfernsehen schon einmal Elvis Presley gesehen hat. Als Cousin Elvis extra für sie Gitarre spielt, ist es das „schönste Jungserlebnis, das ich bis dahin hatte“. Prompt hat sie an diesem Tag ihre erste Periode.
Der Mauerbau verstärkt die Faszination, die der Westen ausstrahlt. Freundin Christa plant die Flucht mit, aber nur so lange, bis sie einen Freund hat. Bald findet Gemma aber im Grenzsoldaten Rob einen neuen Verbündeten, der für sie beide den Ausbruch plant. Sie ist hin- und hergerissen zwischen ihrem schlechten Gewissen den Eltern gegenüber und dem Wunsch nach Freiheit. Den Alltag spult sie nur noch automatisch ab und klammert sich an die unkonkrete Hoffnung auf das bessere Leben mit Rob im Westen. Das Ende wird nicht verraten, nur so viel: Mein Onkel hatte mehr Glück als Rob. ELKE ECKERT
Barbara Boy: „Traumschustern“.Edition Nautilus, Hamburg 2001,272 Seiten, 36 DM
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