: Das Muster des Krieges
Die Vorgeschichten der Balkankriege gleichen sich: Mit Massakern an der Bevölkerung wurde der Hass entfacht
von HEIKO HÄNSELund RÜDIGER ROSSIG
Zwei Jahre nach dem Beginn des Nato-Bombardements von Belgrad scheint die Ungewissheit über die Ursache des Krieges größer den je. Fing alles mit „einer Lüge“ an, wie es eine kontrovers diskutierte WDR-Fernsehdokumentation der Monitor-Mitarbeiter Jo Angerer, Mathias Werth und Andreas Maus nahelegt – war der Süden des Landes vor den Nato-Bomben also ein friedlicher Landstrich? Ist die Gewalt, wie es die Darstellung der im Film zitierten Zeugen suggeriert, von den Albanern ausgegangen? Oder entspricht die Version von den völkermordenden Serben mit ihren lange gehegten Plänen zur „ethnischen Säuberung“ des Amselfeldes der Wahrheit?
Tatsächlich blendet diese Sichtweise die wirkliche Vorgeschichte des Krieges aus – eine Vorgeschichte, die auch die im Film zitierten Kronzeugen wie der Exbundeswehrgeneral Heinz Loquai durchaus anerkennen. Diese Vorgeschichte begann 1998.
Es war gegen Mittag am 28. Februar 1998, als Sondereinheiten der serbischen Polizei das Dorf Likošane in der Region Drenica im Zentralkosovo umzingelten. Wenig später wurde der Hof der Familie Ahmeti von Uniformierten gestürmt. „Unsere Männer gingen hinaus, um uns übrige zu beschützen. Die Polizei schlug sie bewusstlos. Dann sagten sie uns, dass wir uns auf den Boden legen sollten [. . .]. Wir hörten Schreie von draußen und Schüsse. Wir wissen nicht, was passierte, aber ich wusste da schon, dass sie nicht mehr am Leben waren“, berichtet Merci Ahmeti, eine der überlebenden Frauen der Familie, am 3. März dem britischen Journalisten Tom Walker von der Londoner Times.
Ob die Spezialpolizisten die elf Albaner tatsächlich noch vor Ort exekutierten, konnten die Vertreter unabhängiger Menschenrechtsgruppen später nicht mehr feststellen. Fest steht, dass die serbischen Sicherheitskräfte die Männer der Familie Ahmeti mitnahmen, als sie den Hof wieder verließen. Erst zwei Tage später, am 2. März, sah Merci Ahmeti ihre Verwandten wieder – aufgebahrt im Leichenschauhaus der Provinzhauptsadt Priština.
In den folgenden Tagen wurden in der Region Drenica noch viele weitere Albaner getötet – insgesamt starben rund hundert Menschen. In Ćirez, einem Nachbarort von Likošane, erschossen serbische Spezialpolizisten eine schwangere Frau und 12 Männer. In Donji Prekaz starb zwischen dem 5. und dem 7. März 1998 die gesamte Familie des 58-jährigen Adem Jashari – insgesamt 58 Menschen – als serbische Polizei das Haus des mutmaßlichen UÇK-Führers eroberte. Eines der Opfer war der 70-jährige Muhamet Gjeli, der zwei Monate zuvor aus Deutschland in das Kosovo abgeschoben worden war.
„Das war der Beginn des Krieges“, stellte die Internationale Kosovo-Kommission zwei Jahre später in ihrem Bericht an UN-Generalsekretär Anan fest (www.kosovocommission.org). Die Kommission wirft dem serbischen Militär vor, seit dem Frühjahr 1998 gezielt gegen die albanische Zivilbevölkerung vorgegangen zu sein.
Auch Heinz Loquai, der Autor des Buches „Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg“, bewertet die Ereignisse des Frühjahrs 1998 als endgültigen „Ausbruch der Gewalt“ in der Krisenprovinz. Seit Herbst 1998 arbeitete der Exbundeswehrgeneral für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die OSZE war seit dem 17. Oktober dieses Jahres mit rund 1.000 zivilen Beobachtern im Kosovo präsent, um die Einhaltung eines vier Tage zuvor ausgehandelten Rückzugs der serbischen Einheiten zu überwachen. Obwohl Loquai keineswegs ein Befürworter des Nato-Krieges gegen Jugoslawien ist, geht er für 1998 doch von insgesamt rund 100 Toten in der Region Drenica aus – „darunter viele Frauen, Kinder und alte Menschen“.
Nach den Massakern von Drenica weitete die kosovo-albanische Guerilla UÇK ihre Aktionen aus. Neben der Errichtung „befreiter Zonen“ entführte sie Vertreter des serbischen Staates und Albaner, den mit den serbischen Behörden zusammenarbeiteten. Viele wurden ermordet. So fanden serbische Polizisten 22 Leichen in einem Kalkofen in der Ortschaft Klečka – nach Angaben des zuständigen Untersuchungsrichters „Geiseln der UÇK“. Heinz Loquai berichtet in seinem Buch von der Entführung und Ermordung des serbischen Bürgermeisters der Siedlung Kosovo Polje. Das Rote Kreuz gab die Zahl der entführten Serben Ende August 1998 mit 138 an.
Die serbische Seite reagierte auf den Terror der UÇK mit gleichen Mitteln. Dabei kam es vor allem im Zentralkosovo erneut zu massenhaften Tötungen. Nach der Einnahme der Ortschaft Lubenić etwa exekutierte serbische Polizei am 25. Mai 1998 acht Männer. In Novi Poklek verschwanden am 31. Mai weitere acht Dorfbewohner in Polizeigewahrsam und tauchten nie wieder auf. Am 26. September wurde eine 18-köpfige Flüchtlingsfamilie im Wald bei Gornje Obrinje von serbischen Milizionären getötet. Alle diese Fälle wurden von Amnesty International und anderen unabhängigen Organisationen untersucht. Die Ergebnisse wurden veröffentlicht.
Der unabhängige „Rat für die Verteidigung der Menschenrechte und der Freiheit“ aus Priština gibt an, dass 1998 insgesamt 1.934 Albaner von serbischer Polizei, paramilitärischen Einheiten oder jugoslawischer Armee getötet worden seien – „darunter 229 Frauen, 213 Kinder und 395 ältere Menschen“. Zudem irrten nach Angaben des UN-Hochkommisariats für Flüchtlinge (UNHCR) rund 300.000 heimatlos gewordene Menschen durch die Region.
Berichte wie diese waren der Weltöffentlichkeit schon 1998 bekannt. Bereits in den Kriegen in Kroatien 1991 und Bosnien-Herzegowina 1992–1995 verfuhren die Kriegsparteien, insbesondere die serbische Seite, nach einem ähnlichen Muster. Zuerst wurde die ansässige Bevölkerung mit vereinzelten blutigen Massakern in Panik versetzt. Dann rückten Belgrader Sicherheitskräfte an – angeblich, um die Kämpfenden zu trennen. Tatsächlich aber entwickelte sich eine Arbeitsteilung zwischen den regulären Truppen und serbischen paramilitärischen Gruppen: Die Artillerie schoss kroatische Ortschaften sturmreif, so dass Freischärler sie gefahrlos erobern konnten. Nach dem gleichen Schema verlief auch der Beginn des Bosnien-Krieges im April 1992.
Der Fall Borovo Selo – das erste Massaker des jugoslawischen Krieges – ist beispielhaft für die psychologische Vorbereitung auf eine „ethnische Säuberung“ in Exjugoslawien. Am Maifeiertag 1991 versuchten kroatische Polizisten, auf dem Rathaus der mehrheitlich serbisch bewohnten Hochhaussiedlung vor der ostslawonischen Stadt Vukovar die kroatische Fahne zu hissen. Ein Kroate wurde von serbischen Freiwilligen gefangen genommen. Zwölf seiner Kollegen wurden in der Nacht zum 2. Mai bei einem Befreiungsversuch in einen Hinterhalt gelockt, ermordet und verstümmelt. Bei den darauf folgenden Kämpfen kamen weitere 23 Menschen ums Leben – allesamt Zivilisten.
Das Massaker von Borovo Selo markiert nicht nur den Beginn des Krieges in Kroatien. Vielmehr dienten Massaker in Exjugoslawien den nationalistischen Kriegstreibern aller Konfliktparteien dazu, den Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen zu schüren. Trotz Dauerberieselung mit nationalistischer Propaganda war es bis Borovo Selo in Kroatien nicht zu spontanen Hassausbrüchen zwischen den Bevölkerungsgruppen gekommen. Paolo Rumiz, der 1991 für La Repubblica aus Ostslawonien berichtete, schreibt in seinem Buch „Masken für ein Massaker“: „In Kroatien brachte das Blutbad von Borovo Selo [. . .] eine Spannung zum Siedepunkt, die einfach nicht explodieren wollte.“
Dieselbe Funktion dürften die Massaker und Vertreibungen des Frühjahrs 1998 für das Kosovo gehabt haben. Trotz des immer brutaleren Gebarens des Polizeistaates, den Serbien seit der Abschaffung der Autonomie des Kosovo elf Jahre zuvor eingerichtet hatte – von nationalem Hass als Massenphänomen im Kosovo kann erst von diesem Zeitpunkt an gesprochen werden. Der Kosovo-Krieg begann eben nicht mit einer Lüge. Er begann mit Massakern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen