: Was wir sind und zu sein haben
Der Winter hört nie auf, der Kapitalismus vertauscht alles mit allem, und überall in der Stadt begegnet einem dieses so oft denunzierte, verdrängte, pathologisierte Weltgefühl, das man auch Depression nennt. Einige Anmerkungen zu der Reihe „Kapitalismus und Depression“ in der Volksbühne
von DETLEF KUHLBRODT
Berlin zeichnet sich durch eine gewisse Bedrücktheit aus. Überall begegnen einem depressive Verstimmungen. In der U-Bahn sehen die Gesichter verzweifelt aus, in Kneipen leiern einen die angestellten Hausirren mit ihren deprimierenden Geschichten zu, an Straßenecken führen Menschen depressive Selbstgespräche. Der Winter wird nie aufhören, und am Flipperautomat steht ein Freund und sagt zwischen zwei Highscores, er bemühe sich darum, nur noch dicht zu sein, weil ihn die Gesellschaft so ankotzt: Neulich hätte sogar die letzte noch Flipper produzierende Fabrik ihre Tore geschlossen.
Die Depression, dieses so oft denunzierte, verdrängte, pathologisierte Weltgefühl, begegnet einem überall. Ständig werden die Berliner auf die pure Faktizität dessen, dass sie sind und zu sein haben, wie der Philosoph Heidegger so hübsch schreibt, zurückgeworfen. Wie geht’s denn so? – Muss ja. Da helfen keine Pillen und keine kalten Umschläge
Auch die Aufgeregtheit und Geschäftigkeit, das ganze Hauptstadtstrebergetue, die emsigen, oft anrührenden Bemühungen in Kultur und Politik: All das scheint von einem tiefen Gefühl der Sinnlosigkeit angetrieben zu sein, einer Depression, die verdeckt werden soll.
Gleichzeitig hat diese Depression auch etwas Sympathisches. Toll ist, dass ein gebeugter Autor Mitte vierzig, der in seinen Büchern Sex, Depression, Kulturkritik und Weltekel so schön miteinander verschaltet hat, in Berlin ein großer Star ist. Dreimal so viel Karten hätte die Volksbühne verkaufen können, als Michel Houllebecq im letzten Herbst dort diskutieren und musizieren sollte. Das Tollste daran war, dass der kettenrauchende Held des Pessimismus dann doch nicht kam, weil er irgendwo zwischen Nürnberg und Bayreuth mit seinem Toyota Corolla stecken geblieben war. Das vermehrte seinen Ruhm noch.
Nachdem man eine Weile also das vielfältige Angebot im Supermarkt des Lebens gelobt hatte und fantasievolle Patchworkbiografien gefeaturt wurden, nachdem eine Weile – damals in den 90ern – alles prima zu sein schien, herrscht nun eine Art Katzenjammer. Man leidet an der Beliebigkeit der Auswahl.
Deshalb gibt es seit Januar 2000 in der Volksbühne die Veranstaltungsreihe „Kapitalismus und Depression“. An neun Abenden hat man bislang darüber Vorträge gehalten und Diskussionen geführt. Die Abende sind immer gut besucht; die Stimmung ist prima. Dass die düstere Gleichgültigkeit, in der die Dinge jeden Nutzwert für das arme Ich verlieren, ganz gut zum alles mit allem vertauschenden Kapitalismus passen, scheint vor allem jungen Leuten einzuleuchten. Einige der Vorträge und Essays wurden als Bücher („Endstation. Sehnsucht“ und „Glück ohne Ende“) veröffentlicht, ein dritter Band folgt.
„Ohne Glauben leben“ heißt der Sinnspruch ohne Punkt, der am Anfang des ersten Bandes steht. Eine Parole, die zur Versammlung derer aufzurufen scheint, die sich ihm ganz spontan anschließen wollen. „Ohne Glauben leben“ ist ein seltsamer Satz. Er tritt pathetisch auf wie vermutlich alle Sätze mit „Leben“ drin; er verstärkt sein Pathos, indem er auf die Satzzeichen verzichtet – einen Punkt, ein Ausrufungszeichen – , die ihn als Aufforderung oder als Zustandsbeschreibung festlegen könnten. Er hat etwas Anachronistisches, denn vom Glauben, ohne den man so lebt, ist ja nur noch in der Kirche und der Werbung die Rede. So ist das Pathos des Satzes „ohne Glauben leben“ arg von einer gewissen Künstlichkeit angekränkelt.
Schwierig, die verschiedenen Texte auf einen Nenner zu bringen. Im ersten Band entwirft der FAZ-Autor Mark Siemons eine „kleine Ethnologie der Ratlosigkeit“. An einer Kreuzberger Häuserwand liest er die verschiedenen Schichten ab, die das allgemeine Bewusstsein in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. „Es lebe der proletarische Internationalismus“, heißt es in der ersten Schicht; „Scheiß-Yuppies!“ steht in der zweiten; „Scheiß-Relativität“ scheint das gegenwärtige Bewusstsein zu charakterisieren.
Fast wehmütig stimmt ein 68er-Zitat von Christian Semler in seinem Text: „Bei Marx findet man die historisch richtige Polarisierung, hie Arbeiter, hie Flaneur. Der Spaziergänger ist eigentlich der Feind.“ Doch auch der Flaneur ist schon lange her. Während sich der Karlsruher Professor für Philosophie und Ästhetik, Boris Groys, um die Paranoia kümmert, die die Weltbeschreibungen von Adorno bis zu den Kinohits „Matrix“, „Existenz“ und „Truman-Show“ durchzieht („Das ist der adornitische Gedanke schlechthin, dass die größte Täuschung die Normalität ist“), liefert der Ethnologe Thomas Hauschild „Beiträge zur Kulturgeschichte des Kotzens“. Dass an deren Ende Lebensgebrauchsanweisungen stehen, die auch viele Arbeiten in der Volksbühne charakterisieren, ist eher ungewöhnlich: „Durch starken Aus-Druck, durch Zeigen unserer Übelkeit, durch Krisen(-Experimente) müssen wir zeigen, wie es um uns steht. Nachdem diese Mechanismen und Praktiken schon die französische, die sozialistische und die sexuelle Revolution überlebt haben, werden sie vielleicht auch dem Kapitalismus nach und nach noch ein menschlicheres Gesicht verleihen“.
Der zweite Band ist eine Art Houllebecq-Exegese. Im Mittelpunkt stehen die Protokolle zweier Veranstaltungen, an denen sich Peter Sloterdijk, der Direktor des Karlsruher Zentrums für Kunst- und Medientechnologie Peter Weibel, der Sozialwissenschaftler Alain Finkielkraut, das Volksbühnenbrain Carl Hegemann, der Biophysiker Thomas Schulte-Herbrueggen und der Evolutionsforscher Thomas Weber über bzw. mit dem Autorenstar über Depression, modernen Fern- und Autosex, Genetik, Heidegger und solche Sachen unterhielten. Die Langeweile als Grundstimmung kommt zwar etwas zu kurz, doch trotzdem ist alles sehr aufschlussreich.
„Jenseits einer Kater- und einer Rausch-Ordnung muss es doch einen Sozialismus der besseren Drogen geben“, schreibt Diedrich Diederichsen am Ende seines Textes. „Nur wo? Vielleicht hilft uns zu erfahren, dass die englischen Wörter für Schönheit (Beauty) und Wirklichkeit (Reality), in versalen Druckbuchstaben geschrieben, identisch sind, wenn man das untere Drittel abdeckt.“
Heute Abend spricht Guillaume Paoli, Herausgeber der Zeitung der Glücklichen Arbeitslosen, ab 21 Uhr in der Volksbühne zum Thema; die Bücher, „Endstation Sehnsucht“ und „Glück ohne Ende“, sind im Alexander Verlag Berlin erschienen und kosten 15 DM
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