: Effis rechte Gehirnhälfte
Fontane, Shakespeare und Celan: Literatur als Opernstoff hat Konjunktur. Zeit, die aktuelle Produktion zu sichten
Dass Theaterdichtungen, mithin dramatisch konzipierte Texte, zum Libretto umgeschmiedet werden, ist mehr oder minder guter Brauch, seit es Opern gibt. Doch in den letzten Wochen füllte ein wahrer Schub neuer „Literaturopern“ die Theater von Paris bis Dresden – ein halbes Dutzend Aufführungen, mal exemplarisch vorgeführte Ausbeutung, mal Wiederaufbereitung großer Literatur.
In Braunschweig zu bewundern ist Shakespeares „Wintermärchen“, das der Regisseur Luc Bondy – kürzlich zur Jahrhundertwende – in Brüssel zum Libretto umwidmete. Der Hauskomponist der belgischen Nationaloper, Philippe Boesmans, lieferte dazu einen Konversationston mit vielerlei Facetten, gespeist aus verschiedenen Zonen der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts und angereichert mit Rockeinlagen.
In Braunschweig wurde die mittelgute Boesmans-Arbeit nun vom Regisseur Uwe Schwarz neu inszeniert – und fast frenetisch gefeiert. Anders als Bondy glaubt Schwarz aber nicht an Versöhnung und Happy End: Er präsentiert den Schluss als Traum des schwer kranken Königs Leontes als bloße Phantasmagorie, die zerstiebt. Wie sich auflösende erotische und Alpträume wirken auch die Musikpassagen Boesmans: In ihnen gewinnen die harmonischen Komponenten über das atonal Dräuende immer wieder Oberhand. So will und kann eine neue Oper wieder ganz überwiegend schön sein, indem sie sich hinreichend bewährter Mittel bedient.
Doch irgendwie wollen heute so gut wie alle, die für das Musiktheater schreiben, „Psychogramme“ zu Wege bringen. Mit schöner Regelmäßigkeit kollidiert da etwas. Nicht erst die Resultate der kompositorischen Bemühungen und Theatermontagen erweisen sich dabei meist als ziemlich undramatisch, sondern bereits die Konzepte.
Weit problematischer als die Umarbeitung eines Schauspiels für Opernzwecke sind dabei in der Regel anderweitige Literaturadaptionen. Seit dem neunzehnten Jahrhundert wurden literarische Vorlagen vertont. Doch so, wie die Fotografie schon im neunzehnten Jahrhundert mit überlegener Präzision der Malerei eine ihrer vordem zentralen Funktionen abspenstig gemacht hat, so hat im zwanzigsten auch die Literaturverfilmung der Gattung Oper eigentlich den naiv-narrativen Zugriff auf bürgerliche Helden und spätaristokratische Heldinnen verstellt. So kommt es immer darauf an, was mit der Vertonung substanziell hinzugefügt wird.
Für die Vereinigten Bühnen Krefeld und Mönchengladbach dampfte Ulrike Gondorf den großen Roman „Der Idiot“ auf ein Fünfzigstel seiner Textmenge ein. Doch das Einkochen ging schlicht zu Lasten der Substanz: Die große Seelenerkundung wurde auf den Handlungskern um den guten Menschen Myschkin, seinen draufgängerischen Rivalen Rogoschin, die schöne Natassja und die wichtigsten Mitglieder der Familie Japantschin reduziert. Zu diesem dürren Gerüst erhob sich dann, konzipiert im Geist einer gemäßigten Moderne der Sechzigerjahre, die halbwegs illustrative Musik von Thomas Blomenkamp. Und eine Inszenierung in Einheitsausstattung, die an die Chruschtschow-Ära erinnerte.
Etwas besser als Myschkin erging es dem Herrn K. des Franz Kafka an der großen Oper in Paris. Philippe Manourys montierte hier eine in hohem Grad elektronisch gestützte Musik zu den Alpträumen, die Kafka kurz vor seinem frühen Tod als „Prozess“ zu Papier gebracht hat, ohne die Schreckensideen einfach zu verdoppeln: Unter einer weithin sangbaren Lineatur der Singstimmen, einer an der Oberfläche dominanten Konzilianz funkelt es teils bedrohlich, teils pittoresk in der instrumentalen Tiefe – eine sehr französisch anmutende Lösung für ein Publikum, dem das hinreichend kafkaesk erschienen sein mag.
Dostojewski, Kafka, Fontane: Aus dem weiten Feld abgesunkenen Literaturguts entstand in Bonn „Effi Briest“, doch auch hier blieb leider fast alle gesellschaftliche Brisanz von 1895 auf der Strecke. Mit dem Regiezugriff der Experimentalfilmerin Ulrike Ottinger, den exaltierten Gebärden Ingrid Cavens, der in kunstfertigen Sopranlagen agierenden Salome Kammer und einer (gehörlosen) „Gebärdensolistin“ galt es den Seelenzuständen und dem Rumoren in Effis rechter Gehirnhälfte – einem kleinen Segment aus dem alten Gefechtsfeld also, eingegrenzt unter Frauenkunst-Gesichtspunkten und mit einem fein gewirkten Musikteppich, versehen von Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring.
Über derart Kunstgewerblichem ragt die Annäherung an Paul Celan weit hinaus, die Peter Mussbach und Peter Ruzicka zuletzt in Dresden unternahmen: Mit Erinnerungsfetzen an Stationen der Dichterbiografie nähert sich das Libretto dem Holocaust in einer Weise, wie es bislang noch kein Musiktheaterprojekt an einem großen Opernhaus wagte. Sieben Projektteile, drei Dutzend Szenen zielen in aphoristischer Weise und im Verbund eines Montagewerks auf eine „virtuelle Realität“. Denn Auschwitz lässt sich kaum, schon gar nicht in realistischer Weise auf die Bühne bringen – so wenig wie die weithin dunkle, oft verstörte, fast immer erratische und vom Gestus des Verstummens bedrohte Dichtung Celans.
Die Dresdener Produktion verzichtet vollständig auf lineare Erzählweise und auf alle Textpartikel aus dem Werk Celans und zielt stattdessen mit der Thematisierung des traumatisierten Dichterlebens exemplarisch auf das zentrale Desaster des zwanzigsten Jahrhunderts. Hilfreich sind da elaborierte filmische Mittel, die zu den traditionellen der Oper hinzutreten.
Freilich ist es in erster Linie die nur teilweise textgestützte, neo-expressionistische Partitur Ruzickas, die in Bann schlägt. In ihr herrschen große Orchestergesten vor: Schreckmomente und ausladend ruhige Kantilenen, Klangfiguren an der Grenze des Verstummens, Trommel- oder Paukenwirbel wie Wasserstrudel, Engführungen und Stretta-Passagen.
Mitunter ist das dezidiert Filmmusik: Punktuelle Signale wechseln mit flirrenden Haltetönen, Sanftmütigkeiten mit harter Lineatur. Die Räume jenseits der notizhaften Texte erfüllen sich mit einer Klage ohne Worte, mit Motiven der Erinnerung an die Härte der Geschichte, auch an das nach Auschwitz sich wieder einstellende individuelle Glück – oder eben dessen Surrogat in einem geschwätzigen Kulturbetrieb.
Dass gerade die sächsische Staatsoper mit ihrem kulinarisch-konservativen Grundstrom zum Laboratorium für Ruzickas Versuche wurde, ist bemerkenswert. Die nicht ausgebeuteten Texte Celans haben dort eine neue Bedeutungsebene hinzugewonnen.
FRIEDER REININGHAUS
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