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Jingles und Epen

Vom Stop & Go-Core-Auffahrunfall zur Konzeptplatte: „Helgoland“ im Westwerk  ■ Von Lars Brinkmann

Meine früheste Begegnung mit Helgoland hatte ich in der Hafenstraße. Es war warm und wir standen draußen, der Auftrittsraum gehörte zu einer kleinen Off-Galerie und war durch ein halbhohes Fenster von der Straße aus einzusehen. Plötzlich schepperte etwas, begleitet von einem rasenden Wummern fräste sich ein kreissägenartiges Gitarrenriff in die Ohren, und bevor der Bass auch nur „Boing-Bing-Bababummm“ machen konnte, war auch schon wieder alles vorbei. Bis zum nächsten Einsatz. War das nur ein Break? Oder doch schon ein neuer Song? Durch das Fenster konnte man sehen, wie Bassist Rudi Burr seine Einsätze mit eleganten Luftsprüngen pointierte. Helgoland spielten in ihrer Urbesetzung als Trio – Bass, Schlagzeug und Gitarre. Ihr Auftritt war kurz und furios. Jeder Break hatte seinen Platz, die Musik wirkte beispiellos komprimiert, gedrängt und elektrifiziert. Zuvor mussten Manna, ein kurzlebiger Seitenarm der Liedertafel Margot Honecker, unplugged und in Wollpullovern akustische Volksweisen zum Besten geben (eine verlorene Wette?); danach verlas der Gevatter Schlumpf der Hamburger Atonal-Szene, Uli Rehberg, skurrile Unfallmeldungen aus der Boulevardpresse, während sein Zauberlehrling El Stick im Hintergrund merkwürdigen Krach machte. Dazwischen wirkten Helgoland wie ein Brise Mentholamphetamin. Ihre zerhackten Attacken mit der Stop & Go-Dramaturgie eines Auffahrunfalls trafen unvorbereitet und hinterließen tiefe Spuren. Den beiden anderen Konzerten dieser viel zu spärlich dokumentierten Frühphase boten eine heruntergekommene Bowling-Bahn sowie eine Comic Convention den jeweilig passenden Rahmen.

1995 wurde aus Helgoland durch die Konvertierung ihres Gitarristen zum Homöopathen Helgolandrest. Auch gut. Rudi Burr und Schlagzeuger Michele Avantario setzten, ähnlich dem befreundeten Zen Core-Duo Ruins, in der Konzentration aufeinander unglaubliche Kräfte frei. Beide experimentierten mit Pflanzen und Strom, Stücke und Konzerte schienen immer kürzer zu werden. Dank des Bürgersöhnchens und Ex-Psychedelikers Gunnar Büttner – und nicht zuletzt meines persönlichen Analog-Synthesizers (einem Korg MS-20, für den ich hiermit noch mal nachdrücklich den Eigentumsnachweis erbracht haben möchte) – wurde im Jahr darauf aus dem exzentrischen Duo eine Keyboard-Band. Jeder Rocker weiß, was das bedeutet: Nichts Gutes. Seitdem hat sich auch das Helgoland-Publikum geändert. Die übliche Bande von Nichtsnutzen, Tagedieben und Müßiggängern wird zunehmend von Kunst-Tussen, Semi-Schickis und New Economy-Losern unterwandert – T-Shirts der Band gehen via Internet für 150 Zacken weg, ein Helgoland-Aschenbecher kostet gar 250 DM.

Nannte die Band 1998 ihre 10-inch mit 26 Stücken noch passend 20 Minutes, und brachten sie es im nächsten Jahr mit der CD Helgoland and band 99 noch auf 99 Songs in 32 Minuten, so markiert die aktuelle Media Music EP mit 30 Stücken in 44 Minuten einen traurigen Tiefpunkt. Aber es kommt noch dicker: eine Coverversion („Soft End“ von Nova Huta), die mit drei (3!!!) Minuten und dreiunddreißig (33!!!) Sekunden allem widerspricht, was Helgoland bisher ausgezeichnet hatte. Schrei Mucker! Schrei Prog-Rock! Schrei Konzeptplatte! Und schlimmer noch: Helgoland werden weich. Da schreibt mir doch Michele, der elende Schmierlappen, „anders als früher, 1993-1997, tut Helgoland-Musik heute kaum noch weh (was uns ja als Ruf immer noch anhängt)“ . Ach ja, und „der aktuelle Sound vereint fast alle musikalischen Ausrichtungen“ also alles von „laut/verzerrt/schnell/kom-plex“ bis „leise/clean/leicht/einfach“, von Computerkomponiertem bis Improvisiertem, von Jingles bis Epen. Alles wird breiter und weiter. Ich schiebe das auf den Multiinstrumentalisten Douglas S. Patton, der immer überall irgendwas spielen muss. Schrecklich. Gast-Sänger Isaac Margono hatte ja schon ein eigenwilliges Timing, aber der... Das Schlimmste zum Schluss: Heute spielen Helgoland ein Stück, das über VIER (4!!!) Minuten lang ist. Armageddon naht.

Der Serviceteil: Die ganze Wahrheit über Helgoland unter www.helgolandmusic.de. Die aktuelle CD ist bei Stora erschienen (www.stora.de), das Vinyl bei Reis (www.reis-schallplatten.de). Im Vorprogramm spielen am Sonnabend Selfish Shellfish, ein „egozentrisches Krustentier mit manisch-depressiven Tendenzen“ starring: Banana Split (Vocals, Melodica), Tiger Junior (Orgel) sowie Doctor Sheffield (Singende Säge, Streicher, Percussion). Gemunkelt wird von einer Show in Robben-kostümen.

mit Selfish Shellfish: Sonnabend, 21 Uhr, Westwerk

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