: Pokémon zählt nicht
Japan rutscht immer tiefer in die Wirtschaftskrise – und gefährdet damit nicht nur die Region, sondern auch die USA. Der Westen muss Japan daher zu Reformen zwingen
Wieder einmal bedroht Japan die Welt. Diesmal weder mit Autos und Walkmen wie in den Achtzigerjahren noch mit Größenwahn und Tennokult wie im Zweiten Weltkrieg. Aber die japanische Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist ebenfalls ernst zu nehmen: Das Land steht vor einer nationalen Kassenlage, „die dem Kollaps nahe kommt“, warnte kürzlich kein Geringerer als Japans Finanzminister Kiichi Miyazawa. Das war nach zehn Jahren Krisenvertuschung das erste ehrliche Wort eines führenden Politikers der liberaldemokratischen Partei, die Japan seit 1955 fast ununterbrochen regiert.
Nur: Die Zahlen allein sind nicht das Problem. Zwar haben die Liberaldemokraten nach einem Jahrzehnt erfolgloser keynsianischer Konjunkturpolitik einen öffentlichen Schuldenberg von über zehn Billionen Mark angehäuft. Zwar leidet das marode Bankensystem des Landes unter nicht rückzahlungsfähigen Krediten von zwei Billionen Mark. Doch könnte das teure Erbe von Japans „verlorener Dekade“ niemanden außerhalb des Inselreichs erschrecken, wenn die Insulaner sich ernsthaft anschicken würden, ihr Haus in Ordnung zu bringen. Das aber ist nicht ansatzweise der Fall.
Noch heute verfügt Japan über eine der geringsten Mehrwertsteuerraten in der entwickelten Welt. Der letzte Versuch, sie auf sieben Prozent anzuheben, kostete der einzigen Oppositionsregierung, die das Land jemals hatte, 1994 die gerade erst gewonnene Macht. Seitdem vergnügen sich die Japaner in der Krise: Billige Importwaren heben den Lebensstandard, strikter Kündigungsschutz sorgt für soziale Sicherheit, Pop- und Videokultur belebt den Zeitgeist. Gerade die Jugend fühlt sich obenauf: Von Pokémon bis zur modernen Handykultur (i-mode) diktiert sie weltweit Trends. Solche Kulturexporte „made in Japan“ bringen jedoch kommerziell weit weniger ein als früher Autos und Walkmen.
Dieses Problem wird öffentlich ignoriert. Und hier liegt das neue, alte Japanproblem. Als „Kapitulation vor vorhandenen Tatsachen“ beschrieb der Sozialkritiker Masao Maruyama einst das Verhalten der Angeklagten im Tokioter Kriegsverbrecherprozess. Es beruhte auf der Einstellung „Ich tat es, weil alle es wollten“. Man berief sich auf „etwas, was von jemandem bereits getan worden ist, noch deutlicher gesagt, etwas, was irgendwo hergekommen ist“. Genauso verstehen die Japaner heute ihre Wirtschaftskrise: Sie ist irgendwo hergekommen. Keiner fühlt sich verantwortlich. Niemand ändert sein Verhalten.
Armes Asien! Damit steht die nächste Krise vor der Tür. Japans „moderates Tempo“ werde einen stabilisierenden Einfluss auf die Region ausüben, hoffte IWF-Chef Horst Köhler noch zu Jahresbeginn. Doch vom Schneckentempo hat Tokio nun in den Rückwärtsgang geschaltet. Nach 1993 und 1998, so Experten, herrschte bereits Ende 2000 wieder Rezession. Anfang März sind die Kurse an der Tokioter Börse auf ihren tiefsten Stand seit 15 Jahren gefallen, und die Banken bangen heute vor dem Schluss des japanischen Geschäftsjahr, bei dem sie die eigenen Verluste aus dem Aktiengeschäft ausweisen müssen. Zudem droht eine neue Konkurswelle – und das, obwohl die Zahl der Konkurse bereits heute alle Rekorde bricht.
In Asien wird man die Konsequenzen am schnellsten spüren. Japan ist der größte Importeur einer Region, in der japanische Kapitalexporte wesentlich zum Wachstum beigetragen haben. Noch in der Asienkrise 1997/98 war die Tokioter Regierung wichtigster Zahlmeister der vom IWF getragenen Rettungspakete für Thailand, Indonesien und Südkorea. Sämtliche Entwicklungsprogramme in Asien, von den Projekten der Weltbank bis zu NGO-Initiativen, beruhen zu großen Teilen auf japanischem Geld. Bleibt es aus, leidet die ganze Region.
Doch auch die übrige Welt droht in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Japan ist der größte Kreditgeber der Welt. Ein Abzug japanischen Kapitals – zum Stopfen der Schuldenlöcher daheim – könnte sich schnell als weltweite Wachstumsbremse erweisen. Zumal dann, wenn neben der offen liegenden Schuldenkrise in Japan auch die versteckte Schuldenkrise der Unternehmen und privaten Haushalte in den Vereinigten Staaten zu Buche schlagen würde. In der exzessiven Überschuldung – in unterschiedlichen Sektoren der Volkswirtschaft – liegt die große Gemeinsamkeit der beiden größten Wirtschaftsmächte. „Japan ist nicht einzigartig“, warnt der Londoner Economist vor der globalen Schuldenfalle.
Tatsächlich liegt die größte Gefahr für die Weltwirtschaft in einer sich gegenseitig verstärkenden Krise in Japan und den USA. Beiden Länder droht in diesem Jahr eine Rezession. Nur im Ölkrisenjahr 1974 sind die beiden größten Volkswirtschaften der Welt schon einmal zur gleichen Zeit geschrumpft. Und heute könnte der Krisenvirus noch ansteckender sein als damals: Gerade in den neuen Informationstechnologien verbindet Amerika mit Japan und Asien eine Kette gegenseitiger Abhängigkeiten. Wenn die Verbrauchernachfrage in Amerika sinkt, werden die asiatischen Exporte fallen. Ohne technologischen Fortschritt in Asien aber wird auch die amerikanische Nachfrage für verbraucherfreundliche High-Tech-Produkte sinken. Börsentiefs auf beiden Seiten des Pazifiks verstärken die Tendenz.
Es gibt indes zwei klar gezeichnete Wege, der Falle zu entgehen. Beide beginnen in Tokio: Der eine heißt sparen und den Gürtel enger schnallen. Er wird vom japanischen Zentralbankchef Masaru Hayami empfohlen, der jetzt notgedrungen die Zinsen wieder senken musste. Doch einen rigiden Sparkurs könnte nur eine neue Regierung durchsetzen: eine Mitte-links-Koalition (samt Kommunisten) wie unter Romani Prodi in Italien.
Einen anderen Weg schlägt der amerikanische Ökonom Paul Krugman vor: Japan müsse sich ein „positives Inflationsziel“ setzen und die deflationäre Wirtschaft per Geldzuwachs auf Trab bringen. Diese Politik wäre jedoch erst dann erfolgreich, wenn das neue Geld in neue Bahnen fließt – auch das scheint mit der alten Regierung undenkbar.
Derzeit scheinen die Japaner sich davor zu zieren. Sie wollen Lösungen, die schon von „jemandem bereits gefunden wurden“. Also geschieht nichts.
In solcher Lage hat sich Japan schon öfter befunden: Insulare Selbstbespiegelung prägte die Tokugawa-Zeit, maßlose Selbstverblendung den Tenno-Faschismus. Und jedes Mal brachten amerikanische Soldaten die Japaner zur erstaunlich schnellen Selbstbesinnung. Insofern kann der Druck des Westens auf Tokio derzeit gar nicht groß genug sein. Für Horst Köhler und seinesgleichen gilt: Es ist keine Zeit mehr für japanische Höflichkeiten. Droht dem fernöstlichen Kaiser mit dem Ausschluss aus der G7! GEORG BLUME
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