: Migration belebt das Geschäft
von SABINE HERRE
An der böhmisch-bayerischen Grenze wächst Europa zusammen. Zumindest wenn es um Bügeleisen und Bier geht. Hatten in den ersten nachrevolutionären Jahren nur die Tschechen mit handgemalten Schildern für „Gans billige Schweinbraten“ geworben, gibt es nun auch in Bayern immer mehr Reklame in der Sprache der Nachbarn. Für den Supermarkt etwa oder das Elektrofachgeschäft.
Auch Tschechen, die den Einkaufsstress mit einer bayerischen Brotzeit unterbrechen, können die Bestellung nicht selten in ihrer Landessprache aufgeben. Bayern ist inzwischen das Hauptmigrationsland für Tschechen. Fast 10.000 der nach Deutschland ausgewanderten Tschechen – 27.000 insgesamt – haben hier eine Arbeitsstelle gefunden. Doch dies ist nur ein Beispiel für Migration aus Osteuropa. Insgesamt 830.000 Menschen aus den zehn Beitrittsländern gibt es bereits heute in der EU. 600.000 weitere kommen jedes Jahr als Saisonarbeiter.
Gestern nun hat die EU-Kommission ihre Empfehlung zu Übergangsfristen für Arbeitnehmer aus Mittelosteuropa abgegeben. Wie erwartet ist sie den Forderungen der Bundesregierung entgegengekommen und hat sich für eine Zeitspanne von fünf Jahren, die noch einmal um zwei Jahre verlängert werden kann, ausgesprochen. Um die Kritik der Beitrittskandidaten an dieser Frist abzufedern, möchte Brüssel bereits nach zwei Jahren prüfen, ob die Frist verkürzt werden kann.
In einem Papier, das die Kommission Anfang März fertigstellte, sind dagegen noch fünf Optionen für den Übergang zur Freizügigkeit festgehalten. Wer die Argumentation hierfür verfolgt, kann nur schwer nachvollziehen, warum sich Brüssel nun für eine solch lange Übergangszeit ausspricht. Denn allein die von ihr angeführten Zahlen sprechen eine andere Sprache.
So erwartet die Kommission eine jährliche Migration in die EU von 335.000 Personen, darunter 70.000 bis150.000 Arbeitskräfte. Nach Deutschland würden demnach pro Jahr 45.000 Arbeitssuchende aus den acht ersten osteuropäischen Beitrittsländern kommen. „Der EU-Arbeitsmarkt kann das ganz gut verkraften“, meint hierzu der Autor einer Migrationsstudie des DIW, Herbert Brücker.
Nicht nur das. So zeigt eine neue Studie der UNO, dass die EU zwischen 2005 und 2010 eine jährliche „Netto-Migration“ von 550.000 Personen braucht. Die Bundesanstalt für Arbeit errechnet gar eine Zahl in dieser Höhe nur für Deutschland. Und: Allein im Bereich der Handwerkskammer Niederbayern-Oberpfalz summiert sich der Arbeitskräftebedarf inzwischen auf 10.000. Gerade aus Bayern kommen immer wieder Forderungen, Lehrstellen schon jetzt mit jungen Leuten aus den Beitrittsländern zu besetzen.
Migration ist also nötig. Übereinstimmend kommen Autoren verschiedener Migrationsstudien zu dem Schluss, das Einwanderung zu einer Zunahme des Wohlstands in den Zielländern führt. Und selbst wenn die Migration aus Ostmitteleuropa deutlich höher als bisher prognostiziert ausfallen dürfte, gilt: Die zehn östlichen Beitrittsstaaten erreichen zusammen nur 80 Prozent des spanischen Bruttoinlandsprodukts. Länder dieser Größe können in der EU, so Wirtschaftswissenschaftler, keine spürbaren Änderungen im Lohn- oder Preisgefüge bewirken.
Wer mehr Tatsachen als Theorien und Studien glaubt: Gemäß entsprechender Abkommen könnten bereits jetzt jedes Jahr 6.900 Ungarn nach Deutschland einwandern. Diese Quote wird aber nicht ausgeschöpft. Zurzeit arbeiten mehr Westeuropäer in Ungarn als umgekehrt.
Da auch der Bundesregierung all diese Zahlen bekannt sind, begründet sie ihre Forderung nach Übergangsfristen dann auch stets mit den Ängsten, die besonders in den Grenzregionen durch die EU-Osterweiterung hervorgerufen würden. Tatsächlich liegt in Deutschland die Zustimmung zur Erweiterung bei nur 36 Prozent und damit deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 44 Prozent. Zugleich jedoch ist der Anteil der Unentschiedenen sehr hoch: Zwischen 20 und 25 Prozent haben noch gar keine Meinung. „Genug Raum für politische Überzeugungsarbeit“, urteilen die Meinungsforscher der Deutschen Bank.
Unbestritten ist, dass die Osterweiterung regionale und sektorale Probleme mit sich bringt. Gerade die Bau- und Transportunternehmen in Brandenburg oder Sachsen fürchten die billige Konkurrenz aus Polen und Tschechien. Besonders betroffen sind hier außerdem gering qualifizierte Arbeitskräfte, denn sie müssen bald mit ostmitteleuropäischen Pendlern um den Arbeitsplatz konkurrieren. Und so haben die deutschen und österreichischen Bundesländer wiederholt spezielle Förderprogramme für die Grenzregion eingeklagt.
Migrationsforscher sind jedoch der Ansicht, dass es Einwanderer vor allem in wirtschaftlich prosperierende Regionen zieht. Denn nur dort haben sie die Chance, einen Arbeitsplatz zu finden. Ein zweiter Anziehungspunkt sind Städte, in denen bereits Zuwanderer aus dem eigenen Land leben. Beides trifft gerade für Ostdeutschland nicht zu. So leben 80 Prozent der Polen in Deutschland im Westen des Landes, 12 Prozent gingen nach Berlin und nur 8 Prozent in die neuen Länder. In Westdeutschland gibt es Gebiete mit einem Ausländeranteil von über 8,5 Prozent, in Ostdeutschland sind es nur 0,5 bis 0,7 Prozent. Der Schluss einer Migrationsstudie: Das Dilemma Ostdeutschlands ist nicht zu viel, sondern zu wenig Zuwanderung.
Der Blick in andere Grenzregionen könnte sich da für Ostdeutschland lohnen. So verzeichnete das Burgenland, direkter Nachbar Ungarns, zwischen 1990 und 1994 deutlich höhere Wachstumsraten als der Rest Österreichs. Hier waren in 500 Betrieben, denen sich eine spezielle Untersuchung widmete, 10 Prozent osteuropäische Arbeitskräfte beschäftigt. Davon ist man selbst in Bayern weit entfernt.
Es sind also gerade die Grenzregionen, die von der Osterweiterung profitieren könnten. Bereits heute ist Polen der größte Absatzmarkt für Brandenburg, 11 Prozent der Exporte des Landes gehen dorthin. Und die Grenzregionen sind Sprungbrett nicht nur nach Mittelosteuropa, sondern auch nach Russland. Immer öfter gehen westdeutsche Firmen Partnerschaften mit ostdeutschen ein, um sich so regional besser zu positionieren. Investitionen in der Höhe von 120 Milliarden Euro werden nach Schätzungen der EU-Kommission in den nächsten Jahren allein im Bereich des Umweltschutzes in den Beitrittsländern nötig sein.
Selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund gesteht zu, dass die Zukunft der ostdeutschen Wirtschaft weniger von ihrer Lage als von ihrer Zukunftsfähigkeit abhängt. In Sachsen und Brandenburg gelte es zunächst Sprachprobleme und die Abneigung gegenüber der „polnischen Wirtschaft“ zu überwinden. Hermann Ribhegge, der die möglichen Folgen der Osterweiterung für die Grenzregionen untersuchte, findet dafür klare Worte: „Inwieweit sich die Osterweiterung für Ostdeutschland positiv auswirken wird, bestimmen letztendlich die Akteure selbst.“
Was den ostdeutschen Ländern also helfen könnte, wäre nicht eine Verschiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern Investitionen in die geforderte Zukunftsfähigkeit. An erster Stelle stehen dabei Forschung und Entwicklung – allein zwischen 1989 bis 1995 ging die Zahl der in den ostdeutschen Bundesländern Beschäftigten von 86.000 auf 16.000 zurück. Oder durch Unterstützung bei der Kreditvergabe für Klein- und Mittelständler. Denn gerade „knappes Geld“ behindert die Expansion in ostmitteleuropäische Märkte.
Gegner der Übergangsfristen, wie etwa DIW-Autor Brücker, begründen diese Ablehnung mit dem dadurch entstehenden Mangel an Informationen. „Werden die Grenzen für sieben Jahre dicht gemacht, bleibt sieben Jahre lang auch die Ungewissheit über mögliche Migration.“ Da die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westeuropa außerdem bis zu 50 Jahren dauern könnte, wird auch nach Ablauf der Siebenjahresfrist ein Migrationspotenzial bestehen. Da die Grenzen so lange dicht waren und sich „Migrationspotenzial aufgestaut“ hat, könnte dieses sogar angewachsen sein.
Brücker empfiehlt deshalb Zuwanderungsquoten. Dadurch könnten gleich zwei Ziele erreicht werden: Einerseits würde die Migration begrenzt. Zum anderen aber dürfte man anhand der Anträge auf Einwanderung verlässliche Informationen über die Migrationswünsche der Osteuropäer erhalten.
Die Beschränkung der Freizügigkeit könnte im Endeffekt Deutschland sogar schaden. Wenn die Unternehmen nicht genügend qualifizierte wie unqualifizierte Arbeitskräfte in Deutschland finden, werden sie in Osteuropa und eben nicht in Deutschland investieren.
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