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In La Paz ist unten oben

Sozialer Aufstieg heißt in der hoch gelegenen bolivianischen Stadt Abstieg ins Tal. Auch wenn die Abgelegenheit einer der großen Reize des Landes ist – am Titicacasee kann man im schicken Internetcafé surfen, und La Paz ist so malerisch wie modern

von THOMAS PAMPUCH

Südamerika ist out und spielt auf der touristischen Landkarte nur noch eine untergeordnete Rolle. Zugegeben, einen Trip nach Kolumbien möchte man im Moment kaum empfehlen – es sei denn, es handelt sich um eine Studienreise in der dort beheimateten soziologischen Disziplin der violontología. Peru und Ecuador hatten in letzter Zeit auch nicht die beste Presse. Die Ölpest auf den Galapagosinseln und die Nachwehen von zehn Jahren Demokratur unter Fujimori trüben das Bild der schönen Andenstaaten. Erdbeben und Präsident Chávez in Venezuela, Krise in Argentinien, und vor Rio ist eine Bohrinsel gesunken. Alles nicht gerade Nachrichten, die dorthin locken.

Aus Bolivien – im Herzen Südamerikas – hört man gar nichts. Doch das verdankt sich wohl eher schlichter Ignoranz. Die veritable Indianerrebellion im September/Oktober 2000 beispielsweise ist hierzulande fast unbeachtet geblieben. Immerhin haben damals die Aymara-Campesinos der Region um den Titicacasee die Hauptstadt La Paz mehrere Wochen mit Hilfe von Straßensperren regelrecht eingeschlossen. Der Konflikt wurde weitgehend friedlich, à la Boliviana gelöst, und der Führer der Bewegung, „El Mallku“ (der Kondor) – gleichzeitig auch der Chef des nationalen Campesino-Verbands – ist inzwischen ein angesehener Medienliebling. Vor zehn oder zwanzig Jahren hätte dieser „Braveheart Boliviens“ weltweit für Aufsehen gesorgt. Heute lässt er nur dem Bürgertum von La Paz wohlig-gruselige Schauer über den Rücken laufen.

El Mallku wird, nachdem der in die Enge getriebene Präsident (und Exdiktator) Hugo Banzer alle seine – leider etwas diffusen – Forderungen erfüllt hat, wohl ins demokratische Leben eingegliedert werden und dort hoffentlich noch mehr für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Aymara tun können. Als Heros eines Revolutionstourismus taugt er – trotz beträchtlichen Charismas – wenig. Internationale Verbindungen zu Weißhäutigen haben ihn bisher kaum interessiert.

Was für Mallku gilt, scheint für ganz Bolivien zu gelten: Es ist weit weg, und es fehlt an der Vermarktung. Das ist für den Reisenden kein Nachteil. Gerade weil Bolivien vom Massentourismus kaum angekränkelt ist, bietet es Individualreisenden die Chance, ein lateinamerikanisches Land gewissermaßen im „naturbelassenen“ Zustand kennen zu lernen. Was nicht heißen soll, dass die Moderne nicht auch in Bolivien längst Einzug gehalten hätte.

Die neuen Hochhäuser im grandiosen Kessel von La Paz können es mit europäischen leicht aufnehmen. Und vor kurzem hat in Copacabana am Titicacasee eines der feinsten Internetcafés Lateinamerikas seine Pforten geöffnet. Doch die überall feststellbaren Modernitäten sind nur zu einem kleinen Teil durch den Tourismus induziert. Der spielt einfach eine zu geringe Rolle, als dass er Motor der Entwicklung sein könnte. Vielleicht liegt Bolivien „auf der anderen Seite des Mondes“, wie Gabriel García Márquez einmal gesagt hat.

Bolivien ist ein Land für Neugierige, die ein Gebiet lieber erkunden, als es nach Katalog zu bereisen. Ein Land für Abenteurer, mit einer Natur, die von Sechstausendern und dem riesigen Hochplateau des Altiplano über die fruchtbaren Täler des Andenabfalls bis zum Tiefland mit Savanne und Dschungel reicht: ein Mosaik der Erde. Ein Land aber auch, das es einem leicht macht, Kontakte zu knüpfen. Das gilt für die Oberschicht ebenso wie für die andern Gruppen: die mestizischen Cholos, die als dynamische Kleinunternehmer und Händler für die Verbindung zwischen Stadt und Land sorgen, wie auch für die indianische Bevölkerung des „Campo“.

Vor allem in La Paz lässt sich das Nebeneinander – oder besser: Übereinander – von Klassen und Kulturen gut studieren. In der auch topografisch an einen Suppenkessel erinnernden Hauptstadt brodeln die unterschiedlichsten Lebenswelten. Von den Galerien, feinen Cafés und Büros im Zentrum rund um die Prachtmeile Prado und den Hauptplatz sind es nur einige (Höhen-)Meter zu einem der buntesten und größten Märkte Südamerikas, der sich wie ein Labyrinth über zig Straßenzüge nach oben zieht. Der Markt ist weitgehend in der Hand der berühmten cholitas, jener Marktfrauen, die man an ihrem Bowlerhut erkennt. Wieder zweihundert Meter höher gelangt man an den oberen Rand des Kessels, nach El Alto. Hier beginnt der Altiplano, der sich bis zum Tititcacasee erstreckt. Die Luft ist dünn in 4.000 Meter Höhe, aber das stört die fast ausschließlich indianischen oder mestizischen Bewohner wenig, die sich vor allem aus Zuzüglern vom Land und relocalizados (umgesiedelten, arbeitslos gewordenen Mineros) zusammensetzen. In den letzten Jahrzehnten hat sich El Alto aus dem ärmlich-windigen Vorort – der Heimat fast aller muchachas (Dienstmädchen) von La Paz – zur selbstbewussten und inzwischen auch selbst verwalteten Schwesterstadt der Hauptstadt gemausert: Eine geschäftige, chaotische Boomtown mit (noch) wenig Asphalt, aber bereits einer Vielzahl ansehnlicher, wenn auch noch unverputzter Residenzen und Geschäftshäuser. Und dazwischen eine Reihe von großen Kirchen, die ein deutscher Priester namens Obermeier in den letzten Jahren errichtet hat – Bolivien ist ein Schwerpunktland der deutschen Entwicklungshilfe.

Die mondänen Viertel erreicht man, wenn man vom Zentrum aus nach unten Richtung „Mondtal“ fährt. Auch dort – fast 1.000 Meter tiefer als El Alto – sind in den letzten Jahren neue Quartiere entstanden. Die Deutsche Schule – immer noch eine der wichtigsten Kaderschmieden der politischen Klasse des Landes – ist schon vor einiger Zeit in die mildere Klimazone gezogen, McDonald’s hat hier seine erste bolivianische Dependence eröffnet, feine Shopping-Malls sind entstanden, und eine der besten Tageszeitungen Boliviens, La Razón, hat mitten in der Mondlandschaft eine Art Hangar bezogen, in dem neben den Redakteuren auch die supermoderne neue Druckerei untergebracht ist.

1.000 Meter Sozialgefälle – in keiner Stadt der Welt stellt sich die gesellschaftlich Pyramide so sichtbar – wenn auch verkehrt herum – dar: Sozialer Aufstieg heißt in La Paz Abstieg ins Tal. Doch trotz aller Gegensätze hat die Hauptstadt eine Atmosphäre liebenswerter, fast provinzieller Intimität.

Ein Besuch all der verschiedenen Schichten ist dabei nicht gefährlicher als ein Bummel durch Berlin. Und das gilt nicht nur für La Paz, sondern vom Tiefland im „wilden Osten“ über die Minengebiete mit der alten Silberstadt Potosí bis zu den klassischen Kokaanbaugebieten in den tiefen Tälern der Yungas und im Chapare, wo man inzwischen, dem internationalen Druck gehorchend, weitgehend auf andere Produktion umgestellt hat. Dies hat zwar zu erheblichen Einbußen des Nationaleinkommens und unter den Kokaaauern zu einiger Unruhe geführt, aber auch dazu beigetragen, dass Bolivien heute das sicherste (und auch preisgünstigste) Land Lateinamerikas ist.

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