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Nicht erlebte Selbstwirksamkeit

Ausgegrenzte Schüler fühlen sich gedemütigt – und können ideologieempfänglich werden. Über psychische Parallelen zwischen Amokläufern in amerikanischen Schulen und Mitläufern rechtsextremer Cliquen in deutschen Lehranstalten

Spektakuläre Fälle von Schulgewalt schockieren die Öffentlichkeit seit dem Massaker in Littleton immer wieder. Auf den ersten Blick haben Attentate an US-Schulen mit dem gewaltbereiten Auftritt rechtsextremer Jugendlicher in Deutschland wenig gemein. Dennoch gibt es Parallelen.

Weder frustrierten Amokläufern in den USA noch rechtsextremen Jugendlichen hier zu Lande ist offenbar allein mit zero tolerance beizukommen. Entscheidender ist jedoch eine Ähnlichkeit in der psychologischen Struktur der beiden Phänomene. Fallstudien zeigen, dass es den betroffenen Heranwachsenden oft an der Fähigkeit mangelt, eigene Ziele und Interessen auf sozial akzeptierte, gewaltfreie Weise durchzusetzen.

Exzessive Jugendgewalt an Schulen ist ein relativ junges Phänomen. Jugendgewalt an sich nicht. Psychoanalytiker sehen aggressive Impulse als dunkle Schatten der menschlichen Existenz. Man kann sie nicht vermeiden, sondern muss lernen, mit ihnen umzugehen. Unter ungünstigen Konstellationen bleibt diese Lernleistung aus. Der Sozialpsychologe Elliot Aronson (siehe Interview) macht dafür ausgrenzende Cliquenstrukturen mitverantwortlich.

In einem normalen Sozialisationsprozess werden die aggressiven Impulse durch die Gesellschaft zugleich tabuisiert und auf eine symbolische Ebene gelenkt. Ein Kind lernt, seine Ziele mit sozial angepasstem Verhalten zu erreichen. Dies geschieht in zwei sozialen Welten: in der von Erwachsenen kontrollierten Welt (Familie oder Schule) und in der Welt der Peergruppe, der „Clique“, die durch genau definierte Codes wie Sprache, Moden oder Musikvorlieben abgegrenzt ist. Aus entwicklungspsychologischer Sicht sind solche selbst organisierten Gruppen ein wichtiges Medium der Sozialisation, weil Jugendliche dort wichtige soziale Kompetenzen lernen.

Verlorenes Lernfeld

Aronson weist nun zu Recht auf die Gefahren hin, die von selbst organisierten Strukturen ausgehen können. Cliquen bieten die Möglichkeiten sozialen Kompetenzgewinns nur ihren Mitgliedern. Wer nicht dazugehört, wird vom Lernprozess ausgeschlossen und oft zugleich gedemütigt. Im Extremfall kann das für manche Schüler den faktischen Verlust eines ganzen psychologischen Lernfeldes bedeuten. Dies kann Ursache von Frustrationen sein, die Gewalt den Boden bereiten.

Langfristig trägt fehlender sozialer Umgang zu einem Syndrom bei, das Entwicklungspsychologen als Mangel an „Selbstwirksamkeitserleben“ bezeichnen. Dieser etwas sperrige Begriff beschreibt die Erwartung eines Individuums, mit dem eigenen Verhalten die soziale Welt zu vorhersehbaren Reaktionen zu veranlassen. Ausgegrenzten Schülern wird es aber verwehrt, die dazu erforderlichen Feinheiten sozialer Kommunikation zu erlernen. Um solche Defizite auszugleichen, hilft ihnen die Regression auf archaische und eben gewaltbetonte Verhaltensweisen. Scheinbar sinnlose Gewaltexzesse erhalten so ihre Rationalität zurück: Sie gestatten den Gewalttätern die totale Kontrolle über ihre soziale Umwelt – und sei es nur für die kurze Zeit der Gewalthandlung.

Diese individuumzentrierte Sicht lässt sich auf gesellschaftliche Perspektiven erweitern. Soziale und kommunikative Kompetenzen sind heute wichtiger denn je. Wer sich von ihnen ausgeschlossen fühlt, muss wohl zu Recht massive Benachteiligung fürchten. Die betroffenen Schüler macht das empfänglich – zum Beispiel für Ideologien, die Gewalt legitimieren und überdies „geeignete“ Gewaltopfer benennen. Der überdurchschnittlich hohe Anteil sozialer Außenseiter, die man hier zu Lande in rechtsextremen Gruppen findet, wird so plausibel.

Aronsons Vorschlag kooperativen Lernens setzt bereits vor der Gewalteskalation oder der ideologischen Unterfütterung von aggressivem Verhalten an. Die Aufteilung von Klassen in kleine Einheiten, die spontan gewachsene soziale Hierarchien und Gruppenstrukturen bewusst missachten, kann sicher dazu beitragen, die Folgen der Ausgrenzung von Schülern zu mildern. Allein deshalb erscheint sein Konzept bedenkenswert. Selbst wenn es die verwirrende Vielfalt der Ursachen von Gewalt und Extremismus nicht erklärt. RONALD FREYTAG

Der Autor, Psychologe und Jugendforscher mit dem Spezialgebiet Antisemitismus, arbeitet beim Nürnberger Meinungsforschungsinstitut Concentra.

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