: Siehst du Tanger, sag Hallo
William S. Burroughs streichelt glutäugige Araberjungen, und Armin Mueller-Stahl trägt einen Tropenanzug: Der Regisseur Peter Goedel beschwört in einem abendfüllenden Filmessay noch einmal den Mythos der Stadt Tanger
Dies ist ein ärgerlicher Film, der nicht zum Schluss kommt, der keine Fragen oder Probleme aufwirft oder Spannung erzeugt, sondern nur noch einmal lang und breit in Tanger und um Tanger all die Zelebritäten zelebriert, die einem schon seit langem zum Halse raushängen. Zuerst einmal die schwulen Künstler: Truman Capote, Jean Genet, Allen Ginsburg, der zweite Sohn des Earl of Pembroke und W. S. Burroughs, von dem das Credo stammt: „Schriftsteller werden, reich und berühmt sein, in Tanger oder Paris rumhängen und über Proust reden, während man bekifft eine zahme Gazelle streichelt oder einen glutäugigen Araberjungen!“ Und drumherum trifft man dann all die reichen Müßiggänger, Kalten Krieger, Kriegsgewinnler, Adligen, Millionärstöchter und Malerinnen – vornehmlich aus den USA.
Ihre Hochzeit hatte diese Tanger-Party-Scene gleich nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Unabhängigkeit Marokkos 1956. Den Anfang machte Paul Bowles, aus einem völlig idiotischen Grund. Gertrude Stein sagte zu ihm: „Jeder geht nach Villefranche, wie langweilig, geh nach Tanger, das ist cool!“
Bowles blieb bis zu seinem Tod 1999 dort. Der Regisseur Peter Goedel hat ihn für seinen Film „Tanger – Die Legende einer Stadt“ noch interviewen können. Und dazu noch jede Menge andere ältere Menschen, die leider nur noch senile Plattheiten von sich geben. Der Autor Mohamed Choukri: „Tennessee Williams amüsierte sich gern“. Die Buchhändlerin Isabelle Gerofi: „Genet las dem Friseur Mallarmé vor – stellen Sie sich das mal vor!“ Der alte OSS/CIA-Agent Gordon Browne: „Die Deutschen wohnten im Hotel Rif, die Engländer und Amerikaner im Minzah-Hotel“. Der Schmuggler Sultan: „Es gab viele Methoden, die Ware aus dem Hafen zu schmuggeln.“ Die ehemalige Prostituierte Dona Anita: „Ich wurde in Tanger geboren. Was soll ich sagen. Es war großartig. Das kann man nicht beschreiben“. Die US-Malerin Marguerite McBey: „Wir waren um 8 Uhr eingeladen, kamen aber erst um 9.“ Der ehemalige Chefkoch des Restaurants „1001 Nächte“: „Die Zeit verändert alles.“ Und wieder Bowles: „Es gab jede Nacht Partys.“ Wieder Choukri: „Es war ein kleines Paradies.“ Dazwischen gibt es ein paar Dokumentaraufnahmen.
Weil es sich um einen „poetic film essay“ handelt, gibt es auch noch einen durchlaufenden, tiefsinnigen Filmstar: Armin Mueller-Stahl, der allerdings nichts anderes tut, als im Tropenanzug durch Tanger zu flanieren und den Geliebten der 1956 in der Stadt verstorbenen Marie Levant gibt. Zweimal spielt er in einem Hotelzimmer schlecht, dass er schlecht geträumt hat, wobei jedesmal ein Amulett Marie Levants vor seinem geistigen Auge auftaucht. Zitate aus ihren Briefen an ihn sequentieren die 96 Filmminuten: „Chérie, ich kann nicht schlafen / Chérie, unser erster Tanz, erinnerst Du Dich / Chérie, ich habe mehrere Einladungen zum Diner ausgeschlagen / Chérie, Von den großen Künstlern ist niemand mehr da / Chérie, heute nacht konnte ich lange nicht einschlafen / Chérie, gestern habe ich einen der wenigen schönen Tage erlebt / Chérie, ich muß jetzt los, ich bin mit John zum Essen verabredet. Ich liebe Dich.“ Dazwischen tröten arabische Flöten, denn die ganzen reichen Amis und Europäer haben sich in Tanger für die Einheimischen nicht interessiert, höchstens für ihre Musik. Außerdem war es den Marokkanern nicht erlaubt, deren Restaurants und Hotels zu betreten. „Es ist tragisch, was die Europäer da angerichtet haben,“ meint Juan Goytisolo, der einzige intelligente Interviewpartner in Goedels Film.
Zugegeben, ich bin ungerecht und habe den bösen Blick, weil ich keine Prominenten mag, erst recht keine Amis und schon gar keine Männergesellschaften. Aber wer sich für Tanger und seine wilden Künstler-Drogen-Treffs von damals interessiert - für den ist der Farbfilm ein absolutes Must. HELMUT HÖGE
„Tanger – Die Legende einer Stadt“. D/F 1998. Regie: Peter Goedel. 96 Min.
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