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cannescannesKaum sind die Festspiele eröffnet, weht schon ein zart politischer Wind über die Croisette

Marzipanfüßchen, sei wachsam

Es muss eine Art anal-masochistischer Gestus sein. Jedenfalls publizieren die südfranzösischen Provinzzeitungen immer kurz vor Beginn des Festivals ausgiebig die neuesten Untersuchungen über die in den Küstenstädten anfallenden Mengen von Hundescheiße. In Cannes selbst, schreibt zum Beispiel Nice-Matin, werden jedes Jahr allein 60.000 Gewächse und Blumenkübel herbeigeschafft, um vor den 260 internationalen Kamerateams und 400 Fotografen das Schlimmste zu verbergen.

Für die französische Presse ist das Festival sowieso eine einzige große Statistik. 800 Sicherheitsbeamte im Festivalpalast, damit ja niemand Jospin bei der Eröffnung ein Ei hinterherschmeißt, 300 Limousinen, damit bloß kein Stargast sein Marzipanfüßchen aufs verseuchte Pflaster setzen muss. Interessanter ist da schon, dass die vier größten Hotels in diesen zehn Tagen mehr als 2.000 Zimmermädchen beschäftigen, was, wenn man sich alle auf einem Haufen vorstellt, fast schon eine Zola-artige sozialrevolutionäre Größe ausmachen könnte, vor allem angesichts des Geldes, das sich im gleichen Zeitraum zwischen Filmmarkt und Vitrinen der Edeljuweliere repräsentiert.

Noch mehr Zahlenexegese: Im Wettbewerb laufen 22 Filme, wobei das Durchschnittsalter ihrer Regisseure bei etwa 50 Jahren liegt. David Lynch, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Michael Haneke, Nanni Moretti, die Coens, Abbas Kiarostami etc. – Thierry Frémaux, der neu bestellte künstlerische Leiter von Cannes, geht auf Nummer Sicher und setzt die Linie des verdient-renommiert-konsolidierten Autorenkinos brav im Sinne seines Vorgängers Gilles Jacob fort (der, inzwischen zum Präsidenten befördert, sowieso noch die Fäden in der Hand hält). Natürlich macht es Spaß, sich einfach an der schönen Auslage zu bedienen, aber die Cahiers du Cinéma assoziierten mit dem diesjährigen Programm wohl nicht zufällig eine Sammlung ausgereifter Bordeaux-Weine. Wenn sich Festivals darauf kaprizieren, das, was sie einst entdeckt und inzwischen hundertfach prämiert haben, einfach weiter zu reproduzieren, dann geht man irgendwann nur noch in denselben Keller und schaut den Weinen beim Altern zu. Nichts gegen Bordeaux, natürlich.

Aber immerhin, es weht ein zart politischer Wind über die Croisette: Die beiden iranischen Regisseure Mohsen Makhmalbaf und Abbas Kiarostami nutzen die Möglichkeiten der kleinen Digi-Kameras, um die Globalisierung auf ihre Weise auszulegen. Kiarostami fuhr nach Ruanda, um eine Kurzreportage über aidskranke Kinder zu drehen, herausgekommen ist mit „ABC Afrika“ ein anderthalbstündiger Dokumentarfilm, der im Wettbewerb als Sondervorführung läuft. In Mohsen Makhmalbafs Spielfilm „Kandahar“ geht es um die verzweifelte Situation der Frauen unter den Taliban. Der Iraner ließ sich vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen nach Afghanistan schleusen, wo er seinen Film heimlich drehte. Zum ersten Mal überhaupt zeigt das Festival einen bosnischen Film im Wettbewerb. Danis Tanović, der als junger Rekrut den jugoslawischen Bürgerkrieg im Auftrag der bosnischen Armee filmte, schildert in „No Man's Land“ das Duell zwischen einem serbischen und einem bosnischen Soldaten.

Ausgerechnet der Film eines anderen Altmeisters war dem Festival dann doch zu politisch. In „L' Anglaise et le duc“ schildert Eric Rohmer die Französische Revolution und die Schreckensherrschaft nämlich skandalöserweise aus dem Blickwinkel der Monarchie, was ganz und gar nicht ins jakobinische Staatsverständnis, geschweige denn zum wichtigsten Filmfestival der Grande Nation passt. Lieber lässt man heute Abend zur Eröffnung mit Baz Luhrmans „Moulin Rouge“ ganz frivol-französisch die Cancan-Puppen tanzen. Nicole Kidman und Ewan McGregor sausen mit Dolly Parton, David Bowie, Elton John und Jacques Offenbach durchs Paris der Jahrhundertwende. Und hoch das Bein! Da hätten wir doch fast die ewige deutsche Jammerstatistik vergessen: zum siebten Mal in Folge exakt 0 Filme im Wettbewerb. KATJA NICODEMUS

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