: Sparen bis zur Obdachlosigkeit
Senat rügt Bezirksamt Reinickendorf wegen dessen eigenwilliger Interpretation des Sozialhilfegesetzes
Reinickendorfs Sozialstadtrat Frank Balzer (CDU) ist als Hardliner bekannt. Seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren lässt er „Stütze“-Empfängern von „Sozialhilfe-Detektiven“ nachspionieren. Die jüngsten Opfer seiner Sparwut: hoch verschuldete Familien und Alleinerziehende, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können.
„Um Wohnungslosigkeit zu verhindern“, sollten laut Paragraf 15 a des Bundessozialhilfegesetzes die Sozialämter in derartigen Fällen die Mietschulden bezahlen. In Reinickendorf dagegen würden „systematisch Obdachlose produziert, weil das Sozialamt die Übernahme von Mietschulden verweigert“, kritisiert Oliver Schruoffeneger, Fraktionsvorsitzender der Grünen in der BVV-Reinickendorf.
Schruoffeneger stützt seine Kritik auf Zahlen: Seit dem Amtsantritt von Frank Balzer ist die Zahl der Mietschuldenübernahmen drastisch gesunken: Wurden 1998 noch 363 Anträge von Hilfesuchenden bewilligt, waren es voriges Jahr noch 165. Parallel dazu stiegen die Zwangsräumungsklagen: von 530 im Jahr 1998 auf 1.151 im vorigen Jahr.
Die Betroffenen seien längst nicht nur Sozialhilfeempfänger, sagt Christa Ilbert vom SPD-„Arbeitskreis Soziales“. Zum Beispiel Annemarie K. (Name geändert): Die allein erziehende Mutter von vier Kindern bezieht seit zwei Jahren Krankengeld. Den Überblick über die Finanzen des Fünf-Personen-Haushalts hatte sie längst verloren, als ihr Vermieter mit Zwangsräumung drohte. Das Sozialamt Reinickendorf weigerte sich, die Mietschulden zu übernehmen. Annemarie K. und ihre vier Kinder leben jetzt in einer Obdachlosenunterkunft. Dafür zahlt das Sozialamt: 23 Mark pro Nacht und Familienmitglied.
Während sich Sozialstadtrat Frank Balzer damit brüstet, die Kosten von Mietschuldenübernahmen von rund 1,4 Millionen Mark vor seinem Amtsantritt auf knapp 400.000 Mark im vergangenen Jahr gesenkt zu haben, werfen ihm Kritiker „Verdrängungspolitik gegenüber sozial Schwachen“ vor. Mit fragwürdigem Spareffekt: „Die Folgekosten durch Obdachlosigkeit sind sieben Mal höher als der ursprünglich eingesparte Betrag“, hat Schrouffeneger ausgerechnet. Das scheint man bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales und Frauen ähnlich zu sehen: Schon im März wurde das Bezirksamt Reinickendorf aufgefordert, seine „von der Rechtslage abweichende“ Praxis zu ändern. Heute wollen SPD und Grüne in der BVV nachfragen, warum Balzer sich stur stellt.
HEIKE KLEFFNER
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