: D 203 – der Zug war pünktlich
von KLAUS HILLENBRAND
Viertel vor zwölf Uhr nachts, am 5. Februar 2000, fährt der Nachtexpress D 203 Amsterdam – Basel in den Kölner Hauptbahnhof ein. Der Zug mit seinen neun Wagen, darunter drei Schlafwagen der Niederländischen Eisenbahn, liegt gut im Zeitplan: 0.20 Uhr will man Bonn erreichen. Mit rund 300 Personen ist der Zug gut besetzt – D 203 ist gerade bei jüngeren Leuten beliebt, bietet er doch eine zuschlagfreie Nachtfahrt von der Nordsee bis zum Fuß der Alpen.
Keine halbe Stunde später ist die Reise zu Ende. Im Bahnhof Brühl bietet sich ein Bild der Zerstörung: Die Lokomotive ist mit den zwei ersten Wagen die Böschung hinuntergeschossen, hat eine Garage zertrümmert und erst im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses Halt gemacht. Ein Waggon stellt sich quer und wickelt sich um die eiserne Bahnsteigüberdachung. Die letzten Besucher des Brauhauses im Bahnhofsgebäude glauben einen Moment lang an ein Erdbeben. „Zuerst war ein lautes Rattern zu hören, dann war Ruhe“, so ein Kellner. Minuten später wird aus der Kneipe ein Notlazarett. Neun Menschen sterben in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar, 148 werden verletzt. Verunglückte irren durch die Nacht. Der Sachschaden beträgt 50 Millionen Mark.
Nur zwei Tage später scheint die Ursache für das Unglück von Brühl festzustehen: menschliches Versagen – der Lokführer fuhr viel zu schnell. Doch die ganze Wahrheit ist das nicht.
Sascha B. führt ab Köln
Ab Köln übernimmt Lokführer Sascha B. den D 203. Der 28-Jährige darf erst seit August 1999 Reisezüge führen. Sechs Jahre zuvor war er mehrfach durch die Lokführerprüfung bei der Bundesbahn gefallen und hatte danach bei einer Kölner Güter-Privatbahn angeheuert. Inzwischen darf er aber ohne erneute Prüfung den Nachtzug übernehmen – weil er bei dem Privatunternehmen „eine mit DB-Lokführern vergleichbare Ausbildung durchlaufen“ hat, wie das Eisenbahn-Bundesamt später urteilen wird.
23.58 Uhr: D 203 verlässt pünktlich Köln Hauptbahnhof, geführt von der relativ neuen elektrischen Schnellzuglok 101 092-5. Wenig später passiert er Köln Süd und den Güterbahnhof Eifeltor.
Cirka 00.07 Uhr, 6. Februar: Vor Hürth-Kalscheuren bremst der Zug ab, weil im folgenden Güterbahnhof Brühl die Weiche 42 des Gleises 1 in Richtung Bonn repariert wird – eine Routineangelegenheit. D 203 wechselt deshalb vom Gleis 1 auf das Gegengleis 2, das sonst nur den Zügen der Gegenrichtung Bonn – Köln vorbehalten ist. Ein Ersatzsignal regelt die Geschwindigkeit. Mit Tempo 38 – bei erlaubten 40 Stundenkilometern – rumpelt der Zug über die engen Weichen in Kalscheuren und ist nun als so genannte Falschfahrt unterwegs. Laut Signalvorschrift muss der Zug sein Bummeltempo nun beibehalten, bis ein neues Signal die Geschwindigkeitsbegrenzung wieder aufhebt.
Lokführer Sascha B. hat das „Verzeichnis der Langsamfahrstellen“ neben seiner Armaturentafel liegen. In diesem abgekürzt La genannten Heft sind die von der Regel abweichenden Geschwindigkeitsbeschränkungen verzeichnet. Die La schreibt für Brühl keineswegs 40 Stundenkilometer vor: „Fahrt im durchgehenden Hauptgleis der Gegenrichtung (Gleis 2) – 120 km/h“, steht da.
Widersprüchliche Anordnungen
Allerdings gibt es auch noch die „Bau- und Betriebsanordnung Nr. 80115“, genannt Betra. Laut der darf der D 203 fortan nur mit Tempo 40 über die Gleise kriechen – denn jede Betra ist der La übergeordnet. Doch die Betra enthält „zahlreiche sinnentstellende Fehler“. Sie wurde „weder rechtzeitig aufgestellt noch fristgerecht verteilt“, und ihr Inhalt „lässt den notwendigen, sorgfältigen Abgleich der getroffenen Anordnungen untereinander [also zur La, d. Red.] vermissen“, stellt das Eisenbahn-Bundesamt später in seinem Untersuchungsbericht fest.
Hat Sascha B. die Betra-Anweisung rechtzeitig erhalten? Über Zugfunk bekommt er sie jedenfalls nicht. Schriftlich liegt sie dem Lokführer offenbar ebenfalls nicht vor. Warum widersprechen sich La und Betra diametral? Und woher die Vielzahl von Flüchtigkeits- und Schreibfehlern, die die Kölner Staatsanwaltschaft heute moniert? Diese Fragen kann nur der Prozess klären.
Cirka 00.09 Uhr: Sascha B. trifft die falsche Entscheidung. Anstatt, wie vor ihm zehn andere Züge, bei 40 Stundenkilometern zu bleiben, beschleunigt er den D 203 nach etwa 350 Metern kontinuierlich. War seine Ausbildung zum Lokführer doch unzureichend? Heute weiß man, dass B. im August 1999 zur „Ausbildung im Betriebsdienst“ in Köln-Nippes vorgesehen war. Doch die Ausbildung fand nie statt. Stattdessen musste er in einer Werkstatt arbeiten. „Das Unterlassen der notwendigen Weiterbildung wiegt umso schwerer, als umfangreiche Änderungen des betrieblichen Regelwerks in Kraft getreten sind, die dem Triebfahrzeugführer bei seinem früheren Arbeitgeber noch nicht und bei der DB nicht mehr vermittelt wurden“, schreibt das Eisenbahn-Bundesamt. Dieselbe Behörde erklärte später gegenüber dem Verkehrsausschuss des Bundestags, dass eine Ausbildung der Lokführer zu Falschfahrten kaum mehr stattfinde.
2.000 Meter bis zum Personenbahnhof Brühl: Keine Überwachungstechnik kann D 203 mehr bremsen. Die Magneten der „induktiven Zugsicherung“, die normalerweise eine Zwangsbremsung bei zu hohem Tempo bewirken würden – es gibt sie zwar auf dem Gleis 2 kurz vor Brühl. Aber sie sind für den „Falschfahrer“ D 203 an der verkehrten Seite der Schiene angebracht und können deshalb nicht wirken. Und das, obwohl ein Bahn-Mitarbeiter schon fünf Jahre zuvor detaillierte Vorschläge unterbreitet hatte, den Baustellenverkehr bei „Falschfahrten“ entsprechend zu sichern. Untermauert durch den Hinweis, es „wird öfter Klage geführt, dass die vorgesehenen Geschwindigkeiten [auf Baustellen, d. Red.] nicht eingehalten werden“. Doch seine „mobile Geschwindigkeitsüberprüfungseinrichtung“ – Stückpreis etwa 3.000 bis 5.000 Mark – verschwand in der Schublade. Bis heute.
1.000 Meter bis zum Personenbahnhof Brühl: Sascha B. hat den Zug jetzt auf 92 Kilometer pro Stunde beschleunigt. Die Geschwindigkeit steigt weiter.
500 Meter bis zum Personenbahnhof Brühl: D 203 ist mit immer höherem Tempo auf Gleis 2 unterwegs. Das Gleis ist für 120 Stundenkilometer zugelassen. Ganz am Ende des Bahnhofs Brühl fehlt ein Ausfahrsignal. Die Installation samt Anschluss an das Zentralstellwerk hätte etwa 30.000 Mark gekostet, schätzen Experten heute. In diesem Fall wäre der Zug einfach durch Brühl hindurchgerauscht. „Hier wird kein Signal gebraucht“, darauf besteht Bahnchef Hartmut Mehdorn wenig später.
00.11 Uhr: Wegen des fehlenden Signals muss D 203 über die Weiche 48 nach links auf Gleis 3 wechseln, denn nur dieses hat – abgesehen vom gesperrten Gleis 1 – ein Ausfahrzeichen. Der Zug fährt inzwischen mit 122 Stundenkilometern. Der Lokführer hat keine Chance mehr, als er die Weiche sieht, die den Zug nach links lenken soll.
00.12 Uhr: Im engen Gleisbogen von Weiche 48, die nur mit 40 Stundenkilometern befahren werden darf und maximal Tempo 68 aushält, fliegt die Lok aus den Schienen und rast mit den ersten beiden Wagen die Böschung hinab.
„Der höchste Sicherheitsstandard“
Das Eisenbahn-Bundesamt in seinem Untersuchungsbericht vom April 2000: „Die Entgleisung des D 203 wäre vermieden worden, wenn innerhalb des Bahnhofs Brühl die zulässige Geschwindigkeit von 40 km/h eingehalten oder eine technische Sicherung zur Geschwindigkeitsüberwachung der Züge vorgesehen worden wäre.“
Bahnchef Hans Mehdorn am 11. Februar 2000, fünf Tage nach den Unglück: „Wir wissen, dass wir den höchsten Sicherheitsstandard in Europa, den höchsten in der Welt haben, worum uns andere beneiden.“
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