: Fleisch geht vor Cyber
Wenn die Partei die Kontrolle über die Gesichtsmuskeln verliert und die Kunst die Theorie bewegt: Performer und Wissenschaftler trafen sich in der Schaubühne auf der Kollektiv-Körper-Konferenz
von KATRIN BETTINA MÜLLER
In der Sowjetunion, so erzählte Michail Ryklin, Professor für Philosophie aus Moskau, hatte die Partei einst die Kontrolle über die Gesichtsmuskeln ihrer Mitglieder. Sie lächelten und führten einen Jubel auf, der immer schon für wirklich nahm, was zwar als Programm festgesetzt war, doch von der Umsetzung oft weit entfernt blieb.
Als eine wodkagestützte Halluzination beschrieb Ryklin den sowjetischen Kollektivkörper: eine Aufführung, an die niemand glaubte und die doch dem Einzelnen die Verantwortung abnahm. Heute, fuhr Ryklin fort, wird nicht mehr gelächelt – nicht weil es den Menschen schlechter ginge, sondern weil die Zentralmacht die Kontrolle über die Gesichtsmuskeln eingebüßt hat.
Der phantasmatische Charakter des Kollektivs aber zeitigt nach seiner Auflösung Folgen. Sie hat ein Vakuum hinterlassen, in dem jede Abkehr von der Realität als Befreiung verklärt wird. Ryklin zog eine neuere russische Literatur, deren Autoren von Drogen besessen sind, als Beleg für seine These heran. Für die Entlassung aus dem Kollektiv nehmen ihre Protagonisten Rache, indem sie jede Form sozialer Verbindlichkeit aufkündigen. Nur die Welt im Rausch zählt, die Toten auf dem Weg dorthin nichts. Der zerstörte Körper des Junkies als Spätfolge des Traums vom Kollektiv – weit spannte Michail Ryklin den Bogen von der Avantgarde bis zur Gegenwart. Er ließ dabei eine Transformation aufscheinen, die im politisch Imaginären begann und im Trash endet. In diesem Spektrum förderten die Vorträge von Ethnologen, Theater-, Kunst- und LiteraturwissenschaftlerInnen heterogene Geschichten von der Erfindung des Kollektiven zutage.
Organisiert war die Kollektiv-Körper-Konferenz (KKK) vom Graduiertenkolleg „Körper-Inszenierungen“ der FU und der Schaubühne. Sich dort drei Tage lang selbst ein kollektives Schauspiel zu geben, genossen die Teilnehmer sichtlich. Ein Anthropologe, auf die Fleischwerdung kollektiver Ideen im Individuum spezialisiert, schnitzelte neben einem Internetforscher, den mehr das außer Kontrolle geratene Fleisch interessiert, begeistert Gemüse für die „Leibspeisung“ hundert hungriger Teilnehmer.
Im Handschüttelkurs von Paul Gazolla konnte man die Grundregeln der choreografischen Organisation einer Menge aus dreißig Teilnehmern erfahren; und im Workshop „Deleuze-Game“ von Christine de Smedt ein soziales Regelwerk austesten, in dem solidarische Aktionen entschieden mehr Schweiß und Atem kosteten als die Selbsteinschätzung als guter Einzelkämpfer. Kurzum: Die Kunst bewegte die Körper der Theoretiker.
Die Kunsthistorikerin Inke Arns stellte die Gruppe Neue Slowenische Kunst (NSK) vor, die aus einer Überidentifizierung mit den Regeln des Kollektiven verschiedene Strategien entwickelt hat. Ihre Theatergruppe Kosmokinetisches Kabinett Noordung erweist sich als der skurrilste Wiedergänger des Kollektivismus. Sie arbeitet an einem 50-Jahres-Plan für eine Performance im All. Die Schauspieler, auf Lebenszeit verpflichtet, werden im Todesfall durch Robotersymbole ersetzt. Zur Zeit trainieren sie in der Schwerelosigkeit. Im Weltraum wurde auch Stephan May fündig bei seiner Suche nach Kollektivkörpern unter den Borgs und Föderierten der Star-Trek-Serie, die als weit entferntem Außenposten dem Kollektiv ihrer Fans eine gemeinsame Basis liefern. Erdverbundener sind dagegen die Vibes, die der Soziologe Robert Schmidt im Berliner Yaam-Club als Teil eines in Sport, Musik und sozialen Verhaltsmustern verzweigten Instrumentariums ausgemacht hat, mit dem an einem Bild schwarzer Kultur gearbeitet wird. Schmidt konnte von ihr allerdings nie reden, ohne Gänsefüßchen in den Saal zu winken, denn die Herstellung des Authentischen umgeht viele real existierende Unterschiede.
So verschieden die Schauplätze dieser Untersuchungen auch waren, fällt doch eine Ähnlichkeit auf: Die Bezugspunkte, um ein gemeinsames Imaginäres zu bilden, sind historisch und räumlich in weite Ferne gerückt.
Peter Sloterdijk, angekündigt mit einem Vortrag „Die Verachtung der Masse“, erschien nicht. Der zweite Star der Philosophenszene, Slavoj Žižek, aber kam. Schwitzend und fahrig wie jemand, der mit dem Reden kaum dem Ansturm der Gedanken nachkommt, arbeitete er sich durch die russische Revolution und den Cyberspace. Merkt euch, Kinder, Revolutionen werden mit leiblichen Körpern gemacht! Žižek ließ keinen Zweifel daran, dass er das arme Fleisch dem virtuellen Körper vorzieht. Den Cyberspace sieht er als kapitalistisches Hilfsprogramm, das der Zirkulation des Geldes nützt und von der Ökokatastrophe ablenkt. Wer sich in virtuellen Welten amüsiert, den kümmert das Anwachsen der Altlasten vor seiner Tür wenig. Gegen Ende rief er allen zu: „We are already free while fighting for freedom. Perform your liberation.“
Das freute selbst die, die seinen Ausführungen zu masochistischen Praktiken der Selbstbefreiung lieber nicht folgen wollten. Kollektive verlangen Opfer. Wie tief sich dieses Performativ von der Religion durch die Politik bis in das Pathos revolutionärer Subjekte gegraben hat, stellten Kattrin Deufert und Beate Maurer vor. Sie lasen aus Briefen der RAF-Mitglieder aus dem Gefängnis. Im Hungerstreik setzten die isolierten Gefangenen ihre Körper als letztes Mittel ein, ein „Wir“ zu bilden. Da war es wieder der Körper des Einzelnen, der den Preis für alle Phantasmen vom Kollektiven zahlen musste.
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