: Auf der Suche nach der verbindlichen Instanz
Moral ist in Mode: Von Harald Schmidt bis Jenny Elvers bekennen sich Entertainmentstars und -sternchen zu festen Werten und Verantwortung. Unsere Intelligenzblätter wollen da nicht nachstehen: Moralphilosophisch rüsten sie kräftig auf. Gelegenheit dazu findet sich in der Bioethik
von RICHARD HERZINGER
Sich zu Moral und festen ethischen Wertmaßstäben zu bekennen, liegt im Trend. Vorreiter ist, wie schon so oft, Deutschlands führender Entertainer, Harald Schmidt. Im gepflegten Fernsehgespräch mit Günter Gaus outete er sich als Wertkonservativer, dem Familie, verbindliche Normen in der Kindererziehung, klassische Bildung und Hausmusik über alles gehen. Schmidt, bis vor kurzem für die Hüter der öffentlichen Moral noch Inbegriff einer zynisch verblödenden „Spaßgesellschaft“, bedient nun virtuos die Bedürfnisse der verschreckten Bildungseliten, denen das zügellose Treiben der egalitären Massengesellschaft schon lange zu weit geht und die sich nach der Wiedererrichtung klarer „ethischer Grenzen“ sehnt. PR-wirksamer als Harald Schmidt kriegten diese neue Wendung zu alten Werten nur noch Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf und der unverwüstliche Joschka Fischer hin, der neuerdings mit elegischen Reminiszenzen an die katholischen Wurzeln seiner Kindheit aufzuwarten weiß.
Inzwischen vergeht keine Talkshow mehr, in der nicht irgendein Star oder Sternchen der Unterhaltungsindustrie mit verklärtem Blick von den Freuden der „Verantwortung“ berichtet, welche der oder die Betreffende in aller Regel nach der Geburt des ersten Kindes erfahren haben will. Neuerdings bereut sogar Jenny Elvers, das blondeste deutsche Mediennichts, öffentlich ihren früheren lockeren Lebenswandel.
Den selbst ernannten Werteeliten in den gebildeten Ständen müssen die Haare zu Berge stehen: Nachdem sie seit Jahr und Tag vor dem verderblichen nihilistischen Einfluss von Fernsehen und Showbusiness gewarnt und gemahnt hatten, kontern diese nun, indem sie die heiligsten Werte christlicher Kultur kurzerhand Gewinn bringend für sich vereinnahmen. Doch so ohne weiteres wollen sich die traditionell dazu berufenen geistigen Avantgarden des bildungsbürgerlichen Milieus von den Haralds, Jennys und Co. den Rang als oberste Wertebewahrer nun doch nicht ablaufen lassen. In deutschen Intelligenzblättern jedenfalls wird seit einiger Zeit moralphilosophisch kräftig nachgelegt und ethisch massiv aufgerüstet.
Das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das bis vor kurzem noch jeden als Naivling abzustempeln pflegte, der humanistische Werte nicht für hoffnunglos antiquiert und die Universalität der Menschenrechte für mehr als einen Reklamegag der Nato hält, scheint sich anlässlich der Bioethikdebatte über Nacht in eine Art intellektuelles Kampforgan des Opus Dei verwandelt zu haben. Der geplante Massenmord der lasziven hedonistischen Ex-und-Hopp-Gesellschaft an den menschlichen Stammzellen mobilisiert die letzten Reserven der journalistischen Grenzschützer am moralischen „Rubikon“. Vor allem aber sichert das grotesk überzogene Kassandrageschrei über den bevorstehenden Untergang des Abendlandes im Inferno der Embryonenforschung dem Frankfurter Feuilleton wieder einmal die Aufmerksamkeit der ganzen Republik.
Wie man dabei den Gestus eingeweihten Prophetentums zwanglos mit dem Ruf nach der moralischen Entmündigung der breiten Masse verbinden kann, hat kürzlich FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in einem Grundsatzartikel vorexerziert. Der Selbstlauf der „Gen-Gesellschaft“ sei, erst einmal in Gang gesetzt, von nichts und niemandem mehr aufzuhalten. Deshalb fordert Schirrmacher von der deutschen Politik, sie müsse die embryonale Stammzellenforschung in Deutschland weiterhin strikt untersagen, um den irreversiblen Punkt erst gar nicht zu überschreiten. Wenn ein Politiker wie Wolfgang Gerhardt behauptete, „die freie demokratische Gesellschaft werde fähig sein, sich auf diesem Feld Grenzen zu setzen“, so spreche er „mitten aus dem zwanzigsten Jahrhundert – aber durchaus ohne Kenntnis der Zukunft, die wir zu beschreiten im Begriff sind“. Schirrmacher aber glaubt, diese Zukunft schon genau zu kennen. „Die Gesellschaft“, dekretiert er, bewege sich „nicht in einem Zustand der Zufälligkeit und Freiheit, sondern in einem Zustand immer größerer Determiniertheit“. Woraus folgt, dass der Glaube, die liberale Gesellschaft könne die revolutionäre Entwicklung der Wissenschaften im selbstregulativen Diskurs ethisch begrenzen, auf falschen Voraussetzungen beruht. Da die Zukunft nicht Freiheit, sondern Determination bedeutet, muss der Liberalismus mit seinem Vertrauen in die Selbstregulationskräfte der freiheitlichen Gesellschaft zwangsläufig eine Ideologie von gestern sein.
Nach Schirrmachers Logik ist die in Freiheit über den Gebrauch der Ergebnisse verbrauchender Embryonenforschung diskutierende und bestimmende liberale Gesellschaft unfähig, die Determination durch das Gen aufzuhalten; ein präventives Verbot, das jede Diskussion über die Handhabung dieser neuen Technologien beendet, soll aber in der Lage sein, irgendwie das Schlimmste zu verhindern. Mit anderen Worten: Die Bürger einer freien Gesellschaft sind nicht fähig, mit den unerhörten neuen Herausforderungen ethisch umzugehen. Schirrmacher und andere Wissende aber sind es. Sie fordern deshalb, man möge die anderen vor sich selbst schützen, indem man ihnen den Umgang mit dieser schwierigen Materie von vorneherein untersagt.
Hans Magnus Enzensberger hat im Spiegel diesen neuesten intellektuellen Exklusivitätsanspruch in Sachen Moral explizit formuliert: Durch die Entwicklung der Biotechnologien sei ein „ethischer Konsens in den grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz“ nicht mehr gegeben. Der Einzelne könne „eine Reihe von existenziellen Entscheidungen an keine verbindliche Instanz mehr delegieren. Weder auf die Politik noch auf die etablierten Religionen kann er sich verlassen, wenn es um seine elementaren Lebensinteressen geht. Darin liegt eine Überforderung, der die meisten Menschen kaum gewachsen sein dürften.“ Enzensberger selbst darf man wohl nicht zu diesen „meisten Menschen“ zählen. Schließlich hat er sich selbst – wovon sein ganzes Werk zeugt – in moralischen Fragen niemals auf eine „verbindliche Instanz“ oder einen „ethischen Konsens“ verlassen. Was er für seine Person zeitlebens in Anspruch genommen hat, nämlich „existenzielle Entscheidungen“ ohne fremde Anleitung treffen und sich ein eigenständiges moralisches Urteil in „grundlegenden Fragen menschlicher Existenz“ bilden zu können, spricht er „den meisten“ Leuten kurzerhand ab.
Angesichts solcher akuter Ausbrüche von intellektuellem Alterskonservativismus schalten wir einfachen Menschen doch lieber wieder zur Harald-Schmidt-Show um. Denn dort gilt immerhin noch: Moral ist, wenn man trotzdem lacht.
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