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Ein Krieg ohne Sieger

Heute vor zehn Jahren brach in Jugoslawien der Krieg aus. Die Bilanz ist für alle Seiten katastrophal. Und eine echte Befriedung des Balkans steht nach wie vor erst am Anfang

Der reiche Westen muss den verarmten Menschen des Balkans wirtschaftliche Perspektiven bieten

Am Morgen des 25. Juni 1991 begann der Balkankrieg. Noch wissen wir nicht, ob er mittlerweile tatsächlich zu Ende ist. Noch ist nicht entschieden, ob Makedonien sich zu einem ausgehandelten Frieden durchringt oder ob in der südlichsten Ecke des ehemaligen Jugoslawien ein Bürgerkrieg entfesselt wird. Doch jetzt schon steht fest, dass der zehnjährige Krieg nur Verlierer und keine Sieger kennt – mal abgesehen von der organisierten Kriminalität und von Slowenien, wo nur wenige Tage gekämpft wurde und dessen Bruttoinlandsprodukt schon seit drei Jahren über dem Vorkriegsniveau liegt.

Kroatien, das 1991 unter dem Schutz der jugoslawischen Bundesarmee von serbischen Freischärlern mit einem Krieg überzogen wurde, hat die Folgen bis heute nicht überwunden. Fast ein Drittel des Landes, die Gebiete mit einem hohen serbischen Bevölkerungsanteil, waren über vier Jahre lang serbisch besetzt. Die Touristen sind nur allmählich an die Adriaküste zurückgekehrt. Die Auslandsinvestitionen halten sich bis heute in mehr als engen Grenzen.

Im benachbarten Bosnien-Herzegowina mündete 1992 ein serbischer Aggressionskrieg in einen Bürgerkrieg, der schließlich über die Hälfte der Gesamtbevölkerung entwurzelte. Seit fünfeinhalb Jahren ist die exjugoslawische Republik faktisch ein internationales Protektorat. Wirtschaftlich ist Bosnien völlig ruiniert. Ein Aufschwung zeichnet sich nicht ab. Das Land hängt am Tropf internationaler Finanz- und Kreditinstutionen. 20.000 Soldaten und über 30.000 Mitarbeiter ausländischer Hilfswerke und regierungsunabhängiger Organisationen, die Übersetzer und Fahrer brauchen, gut essen wollen und hohe Mieten bezahlen, halten einen künstlichen Wirtschaftskreislauf am Leben.

Serbien, wo der Krieg – vom Kosovo, das ebenfalls zum internationalen Protektorat wurde, abgesehen – erst 1999 mit der Nato-Intervention ankam, ist nach einem jahrelangen Wirtschaftsembargo und der militärischen Zerstörung seiner Infrastruktur auf das Entwicklungsniveau der Dritten Welt abgesunken. Montenegro, der andere in der meist „Restjugoslawien“ genannten Bundesrepublik Jugoslawien verbliebene Teilstaat, war jahrelang direkt von den Sanktionen gegen Serbien mitbetroffen und rappelt sich nur ganz langsam hoch. Makedonien wird von Tag zu Tag ärmer.

Die Bilanz ist also für alle Seiten katastrophal. Der Krieg hat zudem die Transformation des überkommenen Wirtschaftssystems blockiert. Jetzt muss sie unter ungleich schwereren Bedingungen nachgeholt werden. So weit zu den wirtschaftlichen Aspekten des ersten europäischen Krieges seit 1945. Hinzu kommen grauenhafte Massaker, Massenvergewaltigungen und Massenvertreibungen, zerstörte Städte und Dörfer, verminte Landstriche, rund 200.000 Tote, rund zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene – und eine nachhaltige Verwüstung in den Seelen der Überlebenden.

Auf dem Balkan wie im Westen, der den Aufbau wird finanzieren müssen, ist die Meinung weit verbreitet, dem Krieg hätten originär ethnische Konflikte zugrunde gelegen. Dem ist nicht so. Letztlich wurden vielmehr soziale Konflikte, die in einem wirtschaftlichen Ungleichgewicht verankert waren, gezielt ethnisch gewendet, „ethnisiert“. Gerade weil der Konflikt nicht ethnisch begründet ist, kann die Anerkennung einer militärisch und verbrecherisch durchgesetzten ethnischen Trennung von Staaten keine tragbare Lösung sein. Doch es geht nicht darum, die alten Zustände wieder herzustellen. Vieles lässt sich nicht mehr rückgängig machen.

Viele Vertriebene haben im vergangenen Jahrzehnt anderswo Wurzeln geschlagen. Sie wollen nicht mehr in ihre Dörfer zurück. Andere wiederum aber wollen zurück in ihre Wohnungen, ihre Häuser, ihre Höfe, weil sie an ihrem Dorf, an ihrem Stück Land hängen. Ihnen muss zu ihrem – im Übrigen im Dayton-Vertrag explizit verbrieften – Recht verholfen werden. Es geht nicht darum, irgendwelche ethnischen Kollektive zum Zusammenleben zu zwingen, sondern darum, Individuen zu ihrem Recht zu verhelfen. Alles andere ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch politisch kontraproduktiv.

Ein stabiler Frieden setzt die Anerkennung des Rechts des anderen voraus. Dieses Recht auf Heimkehr dem Unrecht der Vertreibung zu opfern wäre der beste Nährboden für künftige Revanche. Warnende Beispiele gibt es zur Genüge. Die internationale Gemeinschaft und ihre Statthalter vor Ort haben an diesem Recht im Prinzip festgehalten, allerdings lange Zeit gezögert, ihm Geltung zu verschaffen. Das stärkte vorübergehend die Position der Nationalisten und Kriegstreiber. Erst nach dem Tod des kroatischen Potentaten Franjo Tudjman und dem Sturz des serbischen Machthabers Slobodan Milošević begann sich der Horizont allmählich zu lichten.

Der Krieg hat die Transformation des Wirtschaftssystems blockiert. Jetzt muss sie nachgeholt werden

In Kroatien akzeptiert die neue Regierung unter Präsident Stipe Mesić nun die Rückkehr der vertriebenen Serben, auch wenn diese auf lokaler Ebene oft blockiert wird. In Bosnien haben sich die nicht nationalistischen Parteien an der Staats- und Regierungsspitze weitgehend durchgesetzt. Als jüngst in Banja Luka, der Hauptstadt des serbischen Teils des Landes, der Grundstein zum Wiederaufbau der im Krieg von serbischen Nationalisten zerstörten alten Moschee gelegt wurde, kam es zwar zu antimuslimischen Protesten. Aber immerhin griffen nun serbische Polizisten ein.

In Serbien selbst hat eine öffentliche Debatte über serbische Kriegsverbrechen begonnen: Das Fernsehen zeigte jüngst einen BBC-Film über den serbischen Massenmord im bosnischen Srebrenica sowie einen Dokumentarfilm über die Belagerung Sarajevos. Im Radio läuft seit einem Jahr die wöchentliche Sendung „Katharsis“, in der Opfer zu Wort kommen. Zudem lässt die Ankündigung der neuen Regierung, Expräsident Milošević an das UN-Kriegsverbrechertribunal zu überstellen, hoffen. Denn die Aufarbeitung der Geschichte ist die einzige Möglichkeit, einer Kollektivschuldthese vorzubeugen und die notwendige Kooperation zwischen den Nachfolgestaaten des zerbrochenen alten Jugoslawien voranzubringen. Schuld muss individualisiert werden. Es gab Verbrecher, Mitläufer, Zuschauer und auch einige Widerständler.

Zehn Jahre nach Kriegsbeginn steht die Befriedung des Balkans erst am Anfang. Der Weg ist lang. Es wird Rückschläge geben. Die politisch gescheiterten Nationalisten werden um ihre Pfründen kämpfen. Makedonien steht am Scheideweg. Andernorts vernarben die Wunden nur langsam. Der reiche Westen muss den verarmten Menschen auf dem Balkan eine wirtschaftliche und politische Perspektive bieten – eine massive Finanzhilfe für den Aufbau einer sich im Wesentlichen selbst tragenden Wirtschaft, gebunden an die Durchsetzung des Rückkehrrechts, die Bestrafung der Kriegsverbrecher und eine reale Aussicht auf eine „Rückkehr nach Europa“ zu den üblichen politischen Bedingungen. Die Alternative ist der Rückfall in die Barbarei. Sie käme den Westen letztlich noch teurer zu stehen. THOMAS SCHMID

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